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ARBEITERSTIMME/327: Theodor Bergmann - Mit 100 immer noch ein Kämpfer


Arbeiterstimme Nr. 191 - Frühjahr 2016
Zeitschrift für die marxistische Theorie und Praxis
Die Befreiung der Arbeiterklasse muß das Werk der Arbeiter selbst sein!

Theodor Bergmann: Mit 100 immer noch ein Kämpfer


Am 7. März wird Tedd oder Theo, wie ihn seine Freunde und Genossen nennen, Bergmann hundert Jahre alt. Seine politischen Freunde in vielen Ländern, uns eingeschlossen, werden mit ihm feiern. Für alle, die mit seinem Leben und Wirken nicht vertraut sind, wollen wir hier seinen Weg skizzieren und verweisen auf seine Autobiographie "Im Jahrhundert der Katastrophen" (Hamburg 2000) und auf sein Buch "Weggefährten" (Hamburg 2010), in dem er Menschen vorstellt, die ihm wichtig waren.

Am 7. März 1916 in Berlin geboren, war er der jüngste von sechs Söhnen und zwei Töchtern des Rabbiners Dr. Julius Bergmann und seiner Ehefrau Hedwig. Im Alter von elf Jahren schloss sich Tedd dem Jungspartakusbund und dem Sozialistischen Schülerbund an. Zwei Jahre später, 1929, wurde er gemeinsam mit seinem Bruder Josef (Pepp) vom Mommsen-Gymnasium ausgeschlossen, weil sie zu einer Schülerdemonstration aufgerufen hatten. Das erwies sich schließlich als Glücksfall, weil er auf das fortschrittliche Köllnische Gymnasium wechselte und sein Abitur dort früher machen konnte. Als dann die SA bei ihnen zu Hause auftauchte, entschieden die Eltern, dass Tedd sofort verschwinden sollte.

An seinem 17. Geburtstag verließ Tedd Berlin mit dem Zug und bestieg in Marseille ein Schiff nach Palästina. Schon bald nach der Ankunft in Jaffa hackte er Steine auf, als er für den Aufbau des Kibbuz Geva schuftete. Als dann sein Bruder Felix in Rehovot ankam, folgte ihm Tedd und fand Arbeit in der Landwirtschaft. Schließlich traf Bruder Ernst ein, baute das Weizmann-Institut für Wissenschaften mit auf und Tedd half beim Bauen wieder mit.

Tedd fühlte sich von den europäischen Entwicklungen isoliert. Er hoffte auf den Sturz Hitlers durch die deutsche Bevölkerung. 1936 reiste er in die Tschechoslowakei, um dort ein Landwirtschaftsstudium aufzunehmen und sich am Kampf gegen die Nazis zu beteiligen. In Prag gab es einige KPD(O)-Genossen. Zusammen mit seinen Brüdern Alfred und Josef hatte sich Tedd der Ende 1928 gegründeten kommunistischen Opposition angeschlossen. Sie trafen sich an den Wochenenden, Genossen aus dem Reich kamen hinzu, und sie diskutierten gemeinsam die dramatischen Entwicklungen in Europa. Propagandamaterial wurde verfasst, um ins Reich geschmuggelt zu werden. Alfred war in Basel, Josef im Saargebiet und dann innerhalb Deutschlands bis November 1938 in ähnlichen Aktionen tätig, um anschließend nach Schweden zu emigrieren. Alfred wurde von der Schweiz 1940 an die Nazis ausgeliefert, die ihn ohne Gerichtsverfahren ermordeten.

Nachdem die britische und die französische Regierung im Geiste der "Appeasement"-Politik die tschechoslowakische Regierung gezwungen hatten, im September 1938 das Sudetenland an das Deutsche Reich abzutreten, in der Hoffnung, Hitlers Interessen würden sich auf den Osten richten, wurde es Tedd klar, dass er auch in der Rest-Tschechoslowakei keine Sicherheit mehr finden würde. So packte er seine Sachen und erreichte nach mehreren vergeblichen Versuchen Schweden. Dort fand er Arbeit auf einem Bauernhof nördlich von Stockholm, wo er als Melker half und die Kühe versorgte. An den Wochenenden konnte er sich mit KPD(O)-Genossen und anderen linken Exilanten aus Deutschland treffen. Schließlich gelang es auch, wieder Kontakte zu Brandler und Thalheimer in ihrem kubanischen Exil zu knüpfen. Damit waren gemeinsame Diskussionen über die Weltereignisse möglich, auch sandten sie kleine Geldsummen, die sie gesammelt hatten, nach Kuba, um die schwierige Existenz der beiden ein wenig zu erleichtern.

Erst im April 1946 wurde es Tedd, Josef und 28 anderen sozialistischen Exilanten erlaubt, in die britische Besatzungszone zurückzukehren. Kurz darauf wurde Josef ein halbes Jahr lang im ehemaligen KZ Neuengamme - zusammen mit hunderten Nazis - interniert, weil er als "Komintern-Agent" denunziert worden war. In dieser Zeit bereiste der Däne Mogens Boserup, als Journalist getarnt, Deutschland mit dem Ziel, überlebende KPD(O)-Genossen ausfindig zu machen, die fähig und gewillt sein würden, die Organisation wieder aufzubauen. Tedd sollte in derselben Absicht die sowjetische Besatzungszone (SBZ) bereisen. Dort hatten einige Genossen in Anerkennung ihrer Haltung und ihrer Leistungen im Widerstand oder sogar in KZs wichtige Positionen erreicht. Thalheimers Broschüren "Die Potsdamer Beschlüsse. Eine marxistische Untersuchung der Deutschlandpolitik der Großmächte nach dem zweiten Weltkrieg" und "Grundlinien und Grundbegriffe der Weltpolitik nach dem 2. Weltkrieg" aus den Jahren 1945 und 1946 formulierten eine gemeinsame politische Grundlage für die überlebenden Kader.

Gerade einmal etwa dreißig dieser Genossen versammelten sich im Sommer 1947 auf einer Konferenz in Rieseberg, um dort die Gruppe Arbeiterpolitik zu gründen. 1949 kehrten Waldemar Bolze und Heinrich Brandler aus dem Exil nach Deutschland zurück und gaben zusammen mit Tedd und seinem Bruder Josef die Zeitung Arbeiterpolitik heraus. August Thalheimer war leider am 19. September 1948 in Havanna gestorben, ein schmerzhafter Verlust für die Gruppe, die mit ihm ihren wichtigsten Theoretiker verlor.

Im Jahr 1952 verließ Tedd wegen politischer Differenzen die Redaktion der "Arbeiterpolitik". Die Arpo machte turbulente Zeiten durch, die Zeitung verschwand eine Zeitlang; tauchte dann aber wieder auf und ist seitdem kontinuierlich erschienen, wobei Pepp bis zu seiner Krankheit und bis zu seinem Tod im Jahr 2005 eine Schlüsselrolle einnahm. Tedd nahm sein Agrarstudium wieder auf und unternahm weltweit Forschungsreisen. 1970/71 verbrachte er ein Jahr in Australien, wo er Vorlesungen hielt. 1965 waren er und seine Lebensgefährtin Gretel nach Stuttgart zurück gezogen, 1973 erhielt er einen Lehrstuhl für Internationale Vergleichende Agrarpolitik an der Universität Stuttgart-Hohenheim und wurde 1981 emeritiert. Im Februar 1994 starb seine langjährige Partnerin Gretel, geborene Steinhilber.

Im Laufe der Jahre hat Tedd eine enorme Menge von Büchern, Essays und Artikeln verfasst, weitere Schriften hat er herausgegeben oder übersetzt. Eine bis zum Jahr 1996 reichende Bibliographie seiner Werke erschien in der Festschrift zu seinem 80. Geburtstag Ausblicke auf das vergangene Jahrhundert (Hamburg 1996). An dieser Stelle können wir nur einige Bücher nennen, von denen wir glauben, dass sie für das Verständnis unserer politischen Tradition unerlässlich sind. Weitere Schriften finden sich im Publikationsverzeichnis des Hamburger VSA-Verlags.

50 Jahre KPD (Opposition), Hannover 1978; Gegen den Strom: Die Geschichte der KPD (Opposition), Hamburg 1987, überarbeitete und ergänzte Ausgabe von 2001 (inklusive 167 Seiten mit Kurzbiographien); Die Geschwister Thalheimer (zusammen mit Wolfgang Haible), Mainz 1993; Programmatische Fragen. Kritik des Programmentwurfs der K.I., Vorwort von Theodor Bergmann, Einleitung von Jens Becker, Mainz 1993 (erstmalige Veröffentlichung dieses wichtigen Textes von August Thalheimer aus dem Jahr 1928); Das Erste Tribunal. Das Parteiverfahren gegen Brandler, Thalheimer und Radek (Hrsg. zusammen mit Jens Becker und Alexander Watlin), Mainz 1993 (Drei bisher unbekannte Dokumente).

Zur Erinnerung an den hundertsten Todestag von August Thalheimer organisierte Tedd Veranstaltungen sowohl an seinem Geburtsort in Affaltrach-Obersulm und in Stuttgart. 1988 fand in Wuppertal ein internationales Bucharin-Symposium statt. Die Beiträge dazu sind in Liebling der Partei (Hrsg. zusammen mit Gert Schäfer), Hamburg 1989, zu finden. Ebenfalls in Wuppertal fand 1990 ein internationales Trotzki-Symposium statt. Die meisten der Beiträge sind publiziert in Leo Trotzki - Kritiker und Verteidiger der Sowjetgesellschaft (Hrsg. Zusammen mit Gert Schäfer), Mainz 1993. Zum Gedenken an den hundertsten Todestag von Friedrich Engels fand 1995 ein Symposium in Wuppertal zu seinen theoretischen Arbeiten statt. Beiträge dazu in Zwischen Utopie und Kritik (Hrsg. mit Mario Kessler, Joost Kircz und Gert Schäfer), Hamburg 1996. Viele Jahre lang war Tedd eingebunden in Konferenzen der Internationalen Rosa Luxemburg-Gesellschaft, die in vielen Ländern stattfanden. Die meisten Beiträge zu diesen Konferenzen wurden vom Berliner Karl Dietz Verlag veröffentlicht.

Gemeinsam mit Wolfgang Haible und Galina Iwanova verfasste Tedd eine Biographie Friedrich Westmeyers (Hamburg 1998), der führenden Persönlichkeit unter den revolutionären Kräften innerhalb der SPD in Württemberg und Gründungsmitglied der Spartakus-Gruppe, der November 1917 als Soldat an einer Infektion verstarb. Die Thalheimers (Hamburg 2004) stellt die Geschichte der Familie umfassender dar, als die frühere Ausgabe. Der Festschrift zu Tedds 90. Geburtstag Dann fangen wir von vorne an (Hrsg. Helmut Arnold und Gert Schäfer) liegt eine DVD (80 Min.) mit dem gleichnamigen Dokumentarfilm über sein Leben bei.

Seit seinen Schultagen blieb Tedd innerhalb der Linken politisch aktiv. Nach dem Anschluss der DDR trat er der PDS bei und ist heute noch in der Nachfolgepartei Die Linke aktiv. Man trifft ihn bei Demonstrationen, sei es gegen Kriege, unsoziale Regierungspolitik oder Rassismus und Faschismus. All das hat unseren Respekt verdient. Wie auch andere seiner Genossen teilen wir Tedds optimistische Wahrnehmung der Entwicklungen in China nicht. Manche sehen das Land auf dem Weg zum Kapitalismus, andere sehen es bereits dort angekommen. Auch unterscheiden wir uns in der Sichtweise auf den israelisch-palästinensischen Konflikt. Tedd unterstützt hier zwar das Recht der Palästinenser auf einen eigenen Staat, aber nicht ihren Kampf gegen Israel, wenn Konflikte entstehen, wie die brutalen Massaker im Libanon oder Gaza. Tedd stellt sich sogar gegen die Versuche, die Blockade Gazas durch Konvois zu Lande und zu Wasser zu durchbrechen, die nicht nur von der politischen Linken, sondern selbst von liberalen Menschenrechtlern unterstützt werden.

Als Kommunist kann man sich nicht neutral geben, wenn es um Unterdrücker und Unterdrückte geht.

Dies musste gesagt werden. Wir wollen Tedd auch zu seinem Geburtstag gratulieren, sein jahrzehntelanges Schaffen würdigen. Und nun wünschen wir ihm, dass seine eigenen Wünsche in Erfüllung gehen.

m.j.

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Quelle:
Arbeiterstimme Nr. 191 - Frühjahr 2016, Seite 25 bis 26
Verleger: Thomas Gradl, Bucherstr. 20, 90408 Nürnberg
E-Mail: redaktion@arbeiterstimme.org
Internet: www.arbeiterstimme.org
 
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veröffentlicht im Schattenblick zum 10. Mai 2016

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