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ARBEITERSTIMME/286: Zum Zustand in der Türkei - Politische und kulturelle Kämpfe


Arbeiterstimme Nr. 184 - Sommer 2014
Zeitschrift für die marxistische Theorie und Praxis
Die Befreiung der Arbeiterklasse muß das Werk der Arbeiter selbst sein!

Zum Zustand in der Türkei

Politische und kulturelle Kämpfe



Aus den Kommunalwahlen am 30. März ging die AKP, Adalet ve Kalkinma Partisi (Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung) als Siegerin hervor: 43,4 Prozent der Wählerinnen und Wähler stimmten für sie, das waren 7,2 Prozent mehr als bei den letzten Kommunalwahlen. Eine erstaunliche Zustimmung der Bevölkerung, die vor allem vor dem Hintergrund der letztjährigen großen Aufstände und Demonstrationen nicht so einfach zu verstehen ist.

Zur Vergangenheit der AKP

Die AKP wurde 2001 von jüngeren Kadern der "Wolfahrtspartei" gegründet. Die Wohlfahrtspartei hatte im wesentlichen drei Stützen in der türkischen Gesellschaft: die anatolische Handels- und Industrie-Bourgeoisie, die konservativ-gebildeten "neuen" wohlhabenden in den Metropolen und ein Teil der armen Bevölkerung aus der Provinz und den Städten. Ihr Gründer und bis in die 90er Jahre unbestrittene Führer Necmettin Erbakan wetterte in Anlehnung an den islamischen Glauben, gegen "Zins" und "freie Marktwirtschaft" und trat für eine "gerechte Ordnung" ein. Die Politik der Partei war pan-islamisch (deshalb auch unter der sunnitischen kurdischen Bevölkerung relativ erfolgreich), antiwestlich und antisemitisch. Bei den Parlamentswahlen Mitte der 90er Jahre gewann die Wohlfahrtspartei Erbakans über 20% der abgegebenen Stimmen und wurde stärkste Kraft. Von seinem Amt als Ministerpräsident wurde er nach nur einem Jahr im Juni 1997 durch einen, wie es in der Türkei heißt, "postmodernen Putsch" vertrieben.

In der Folgezeit befand sich die Partei in einer tiefen Krise, ihre Politik hatte zwar bei den letzten Wahlen knapp über 20 Prozent der Menschen für sich mobilisiert, aber mehr war nicht drin. Die Jüngeren versuchten innerhalb der Wohlfahrtspartei die Mehrheit zu erringen; als dies scheiterte und das Verbot der Partei absehbar war, gründeten sie die AKP und bezeichneten sich als eine konservative, liberal-demokratische Partei. Bei den Parlamentswahlen im November 2002 erreichte sie 34,5 Prozent und erhielt wegen der bis heute gültigen zehn-Prozent-Hürde 66 Prozent der Parlamentssitze. Bei den folgenden Wahlen konnte sie ihre Stimmen weiter steigern; bei den Parlamentswahlen 2011 erreichte sie fast 50 Prozent der Stimmen.

Gläubig und Neoliberal

Auch wenn die Wurzeln der Partei im politischen Islam liegen und sie eine ähnliche Wählerschaft hat wie ihre Vorgängerin, kamen in den folgenden Jahren viele liberale und ehemalige Linke dazu, was ihre Basis vergrößerte. Einen "großen Verdienst" am Erfolg der AKP haben sicherlich die Militärs, die jede Regung im Land, sei sie islamisch-konservativ, gewerkschaftlich, linksliberal oder kurdisch, mit brutalen Mitteln unterdrückten. Ein ebensolches Verdienst hat die CHP, Cumhuriyet Halk Partisi (Republikanische Volkspartei). Mit ihrer nationalistisch-antikurdischen, putschistischen Politik vor allem in den späten 90ern und Anfang der 2000er Jahre trug sie viel zum Erfolg der AKP bei.

Aber der Erfolg der AKP liegt vor allem darin, dass zu Beginn der 2000er Jahre die alten Parteien abgewirtschaftet hatten, die schwerste wirtschaftliche Krise Millionen von Menschen jegliche Existenzgrundlage genommen hatte und die Bevölkerung vom Krieg in Kurdistan müde war. Der AKP kam auch zu Hilfe, dass der PKK-Vorsitzende Öcalan 1999 festgenommen wurde. Bei der Gerichtsverhandlung rief Öcalan die kurdische Guerilla auf, sich hinter die türkische Grenze zurück zu ziehen. In der folgenden Zeit trat eine relative Ruhe ein, der Ausnahmezustand im Südosten der Türkei wurde im November 2002 aufgehoben. Die Wirtschaft erholte sich von der Krise, mit der Europäischen Union wurden Beitrittsverhandlungen aufgenommen, im Zuge dessen die Todesstrafe abgeschafft Dies alles konnte die AKP glaubhaft als ihren Erfolg darstellen, was trotz diverser Widersprüche bis heute ihre Wahlerfolge sichert.

Die Kommunalwahlen im März 2014

Die Wahlbeteiligung lag mit 89 Prozent um acht Punkte höher als bei den letzten Kommunalwahlen im Jahr 2009, wobei man berücksichtigen muss, dass in der Türkei die Wahlpflicht gilt und das Nichtwählen umgerechnet ca. 13 Euro kostet. Viel Geld für einen Beschäftigten mit einem Mindestlohn von monatlich ca. 370 Euro (1071 Türkische Lira) brutto.

Die Enttäuschung, vor allem auf der linken Seite war groß, hatte man doch nach den Gezi-Protesten im letzten Frühjahr/Sommer und nach diversen Korruptionsskandalen einen Rückgang der Stimmen für die regierende AKP erwartet.

Damit ist klar, was sich auch nach den letzten Parlamentswahlen gezeigt hatte: knapp die Hälfte der wahlberechtigten Bevölkerung sieht zurzeit keine Alternative zur AKP. Auch die zahlreichen Wahlfälschungsvorwürfe - so fiel zum Beispiel während der Stimmauszählung in weiten Teilen der Türkei der Strom aus (schuld daran soll ein Katze(!) gewesen sein, die in einem Umspannwerk einen Kurzschluss verursacht habe), auch tauchten gefälschte Wahlunterlagen und Stimmzettel auf Mülldeponien auf - ändern an dem überlegenen Wahlsieg der AKP vermutlich nichts.

Unerfüllte Erwartungen

Doch das Gesamtbild ist noch schlimmer: auch die türkischen Faschisten bekamen landesweit über 15 Prozent der abgegebenen Stimmen und stellen in mehreren Städten Bürgermeister. Dagegen konnte das von sozialistischen Organisationen und der kurdischen Bürgerrechtsbewegung getragene Wahlbündnis HDP (Halklarin Demokratik Partisi, Demokratische Partei der Völker) landesweit nur knapp über zwei Prozent der Stimmen für sich verbuchen und blieb hinter den selbstgesteckten Zielen zurück. Lediglich in kurdisch besiedelten Regionen konnte sich die kurdische BDP (Baris ve Demokrasi Partisi, Partei des Friedens und der Demokratie) als stärkste politische Kraft behaupten. Aber selbst dort erreichte die AKP in vielen Städten teilweise über 40 Prozent der abgegebenen Stimmen.*

* Landesweit erreichten HDP und BDP gemeinsam ca. 6,5 Prozent der abgegebenen Stimmen, wobei die BDP im Osten/Südosten des Landes und die HDP in den westlichen Gemeinden und Städten kandidierte.

Die kemalistisch-sozialdemokratische CHP konnte auch fast fünf Prozent Stimmzugewinne, in absoluten Zahlen über drei Millionen Stimmen, für sich verbuchen, erreichte jedoch nicht das selbstgesteckte Ziel, die Mehrheit der Sitze wie auch die Oberbürgermeister-Ämter in Ankara und Istanbul zu erobern. Die beiden Städte werden auch zukünftig von der AKP regiert. Bei alledem sollte aber nicht vergessen werden, dass in der Türkei auch bei den Kommunalwahlen die Zehn-Prozent-Hürde für den Einzug in die Rathäuser gilt. Deshalb werden vielfach die "kleineren Übel" gewählt, die aber sicher über die Sperrklausel kommen.

Der letzte Aufstand...

Die Proteste begannen Ende Mai 2013 gegen die Abholzung der Bäume im Gezi-Park im Zentrum von Istanbul. Um die Fällungen zu verhindern, hatten einige UmweltaktivistInnen und GentrifizierungsgegnerInnen ein kleines Zeltcamp im Park errichtet. Sie wurden mit brachialer Gewalt aus dem Park rausgeprügelt, ihre Zelte, Schlafsäcke und was noch da war verbrannt. Die Empörung angesichts der Brutalität der Polizei und Selbstherrlichkeit der Regierung und Behörden war so groß, dass sich in den folgenden Tagen der Protest rasant auf die gesamte Türkei ausbreitete. Millionen von Menschen gingen vor allem in den großen Städten auf die Straße.

Die Regierung schien diese Empörung und große Solidaritätswelle nicht erwartet zu haben. In Istanbul wurde vor Polizeieinsätzen immer wieder der öffentliche Verkehr, einschließlich der Bosporus-Fähren eingestellt, damit die Bevölkerung nicht den am Taksim-Platz Kämpfenden zu Hilfe eilen konnte. Wer Istanbul kennt, weiß, welche Lahmlegung dies für die 16 Millionen-Stadt bedeutet. Doch vergeblich, entweder strömten die Menschen zu Fuß zu Hunderttausenden in die Innenstadt, oder verwickelten die Sicherheitskräfte in allen Stadtteilen in Kämpfe. In anderen Metropolen sah es nicht anders aus. Der Park selber und der Taksim-Platz wurden mehrmals von der Bevölkerung zurückerobert und immer wieder von der Polizei geräumt.

Mitte Juni erinnerten die Kämpfe in den Metropolen der Türkei an Bürgerkrieg, die Polizei schien die Kontrolle verloren zu haben und ging immer gewaltsamer vor. Mehrmals mussten sich die Polizeieinheiten aus den Stadtvierteln zurückziehen, weil ihnen die Plastikgeschosse und Gaskartuschen ausgingen.

In den Medien wurden diese Kämpfe oft als der Aufstand der jungen, gutausgebildeten, wohlhabenden "Twitter-Generation" dargestellt. Natürlich waren sie auch dabei, aber ohne die Hunderttausenden, Millionen aus den Armen-Vierteln hätten die Kämpfe nie dieses Ausmaß erreicht und wären nicht mit solcher Beharrlichkeit geführt worden. Die Polizeikolonnen, die in die Zentren der Städte fahren wollten, wurden oft schon an den Stadtautobahnen, die die Armenviertel durchschneiden, aufgehalten. Im Juni 2013 lernten hunderttausende Jugendliche von Linken wie man Barrikaden baut und sich gegen Polizeiangriffe wehrt, wie man sich untereinander solidarisch verhält, warum die Homo-, Bi- und Transsexuellen, die KurdInnen, Frauen, die Arbeiterklasse sich mit diesem Staat und seinen Prügelhorden seit Jahrzehnten auseinandersetzen müssen. Gerade wegen dieser Solidarität der Demonstrierenden untereinander und wegen des großen Humors der Menschen auf der Straße, hat dieser Aufstand schon jetzt einen besonderen Platz in der türkischen Geschichte bekommen.

Durch die Polizeigewalt starben acht Demonstranten, nach Angaben der türkischen Ärztekammer wurden über 8.000 Demonstrierende verletzt, 14 von ihnen sind durch Gaskartuschen/Plastikgeschosse erblindet, viertausend Menschen wurden festgenommen, über hundert von ihnen sind in U-Haft.

...und die Hintergründe.

Die türkische Regierung erhielt aus dem In- und Ausland viel Lob für ihre "demokratischen Reformen", für die Zurückdrängung der Macht des Militärs, für die Freigabe der kurdischen Sprache und so weiter und so fort. Nun, diese Maßnahmen waren notwendig für die Teilnahme am globalen Waren- und Kapitalverkehr und damit für das Überleben der Regierung. Die türkischen Unternehmerverbände drängten schon seit Jahrzehnten zu diesen Schritten. Aber darüber hinaus ist eigentlich nichts passiert, im Gegenteil.

Der so genannte "Friedensprozess", der eine Lösung im Konflikt in Kurdistan bringen soll, wird nicht in Verhandlungen mit der kurdischen Bürgerrechtsbewegung und der Guerilla erörtert, sondern in Geheimgesprächen zwischen dem verurteilten PKK-Vorsitzenden Öcalan und dem türkischen Geheimdienst. Weder gibt es eine gesetzliche Grundlage, noch eine von der Regierung veröffentlichte Vorstellung, wohin diese Gespräche führen sollen. Die kurdische Seite hat ganz klar erklärt was sie will: Selbstverwaltung innerhalb der heute bestehenden Grenzen der Türkei. Während die AKP-Regierung die kurdische Seite mit kurdischem Fernsehen und Kurdisch-Kursen hinhält, baut sie gleichzeitig die militärische Infrastruktur in Kurdistan rasant aus: Es werden in unzugängliche Gebiete Militärstraßen gebaut, in Dörfern und Gemeinden Militärstützpunkte errichtet und die Proteste der Bevölkerung dagegen werden blutig niedergeschlagen. Trotz aller Hoffnungen von Teilen der kurdischen Bewegung und eines Teils der türkischen Gesellschaft, wird die AKP die Lösung dieses Problems nie ernsthaft angehen können, weil sie wie die anderen bürgerlichen Parteien im türkischen Chauvinismus gefangen ist. Der Frieden in Kurdistan innerhalb der jetzigen Weltordnung, gerade angesichts der Entwicklungen im Irak und in Syrien scheint in immer weitere Ferne zu rücken. Gerne hätten wir an diesem Punkt unrecht.

Der Zustand der Arbeiterklasse

Wenn er sich anbiedern will, spricht Regierungschef Erdogan gerne von "meinen kurdischen Schwestern und Brüdern". So redet er auch die Arbeiterinnen und Arbeiter an, wenn sie brav sind und nicht aufbegehren. Das ist durchaus ernst gemeint, denn nach dem Islam sind alle Menschen, ohne Unterschied Brüder und Schwestern. Nur dürfen sie gegen die Obrigkeit nicht aufsässig sein, dann werden sie diesseits und jenseits belohnt werden. Den bürgerlichen PolitikerInnen und JournalistInnen hierzulande, die in der AKP den Beweis sehen wollen, dass Islam und Demokratie vereinbar seien, sei gesagt, mit dem Islam funktioniert der Kapitalismus genau so gut wie mit dem Christentum. Wie und unter welchen Bedingungen die Arbeiterklasse lebt, ist ansonsten eine Frage der Klassenkämpfe. Und in den Klassenkämpfen ist die türkische Arbeiterklasse seit Jahrzehnten die Unterlegene.

Nach dem Militärputsch, der notwendig war um die neoliberale Neuausrichtung der türkischen Wirtschaft zu gewährleisten, haben die Gewerkschaften und sozialistischen Organisationen nie wieder die Stärke erreicht, die sie zuvor hatten. Es sind immer noch dieselben Gesetze und die Verfassung in Kraft, die die Putschisten verabschiedet haben - auch wenn sie von Zeit zu Zeit etwas verändert werden. Wir haben in der Arbeiterstimme oft beschrieben, wie die gewerkschaftliche Organisierung be- und verhindert wird (siehe z.B. Arbeiterstimme 176, Sommer 2012), deswegen gehen wir hier diesmal nicht darauf ein. Aber die Verachtung für die Lebensbedingungen der Arbeiterklasse brachte Erdogan nach den über 300 Toten im Bergwerk von Soma klar zum Ausdruck, als er meinte solche Unfälle wären das Berufsrisiko des Bergmanns, und dafür Beispiele aus dem 19. Jahrhundert aus Westeuropa aufführte.

Die Ausbeutungsbedingungen der Klasse werden, je mehr sich der Neoliberalismus durchsetzt, umso barbarischer. Die Regierungsjahre der AKP sind von einer grenzenlosen Deregulierung des Arbeitsmarktes und Privatisierungen geprägt. Das schlägt sich auch unmittelbar in den Todeszahlen bei Arbeitsmorden, wie die türkischen Kolleginnen und Genossinnen sagen, in Betrieben nieder. Nach offiziellen Zahlen starben zwischen 2002-2005 durchschnittlich 898 Arbeiterinnen und Arbeiter jährlich bei der Mehrwertproduktion. In den Jahren 2006 bis 2012 waren es im Durchschnitt schon 1.223. Das sind die offiziellen Zahlen. Da über ein Drittel der Beschäftigten in der so genannten Schattenwirtschaft arbeitet, also ohne Sozialversicherung und nicht erfasst, sind die tatsächlichen Zahlen weit höher.

Nach dem 1980er Militärputsch erreichten die Löhne erst 1999 wieder die Kaufkraft von 1978 um in der Krise von 2001 wieder in das Bodenlose zu fallen. Die Reallöhne befanden sich 2007 immer noch um über 21 Prozent unter dem Niveau von vor dem Putsch. Auf diesem Niveau dümpeln sie immer noch.

Da der Organisationsgrad der Gewerkschaften in der privaten Wirtschaft nur noch bei drei Prozent liegt, sind die Beschäftigten ganz den Unternehmern ausgeliefert. Flammen mal Arbeitskämpfe auf, was in der Türkei täglich irgendwo passiert, werden sie mit Entlassungen, mit Polizeigewalt beendet.

Wenn man sich die nackten Zahlen der Jahre seit dem Amtsantritt der AKP anschaut, wuchs die Wirtschaft der Türkei um bis zu neun Prozent, das Bruttoinlandsprodukt (BIP) pro Kopf stieg zwischen 2003 und 2013 von 4500 Dollar auf 11.000 Dollar, die Schulden an den IWF sind bezahlt, im Land wird überall gebaut, die Zahl der Millionäre hat sich seit 2006 verdoppelt - wenn das keine gute Nachrichten sind. Natürlich weisen bösartige Menschen darauf hin, dass über 16 Prozent der Menschen unter der Armutsgrenze leben und weitere 16 Prozent als permanent von Armut bedroht angesehen werden. Bei diesen Löhnen auch nicht erstaunlich.

Der Kulturkampf

Die AKP ist auch nach eigenem Verständnis eine wirtschaftsliberale, konservative Partei. Ihren Konservatismus nach islamischer Spielart bekommen vor allem jene zu spüren, die vom Leben eine andere Vorstellung haben. In der deutschen Presse wird oft als Beispiel die Restriktion der Ausschankregelungen für Alkohol aufgeführt. Tatsächlich kann sich die Arbeiterklasse mit ihrem geringen Lohn kaum noch alkoholische Getränke leisten. Vor allem nachdem die Steuern für das Nationalgetränk Raki in den letzten zehn Jahren um 655 % erhöht wurden, ist Raki ein Luxusgetränk geworden.

Aber noch gravierender sind die Auswirkungen des Konservatismus auf die Frauen. Die Frauenorganisationen weisen auf den Zusammenhang zwischen der Zunahme der Frömmigkeit in der Gesellschaft und der Gewalt gegen Frauen hin. Nach Zählungen der Frauenorganisationen - das Justizministerium gibt an, dass es Morde an Frauen nicht gesondert registriert - sind in der Regierungszeit der AKP 6.910 Frauen ermordet worden, meist durch Freunde und Ehemänner. In den ersten hundert Tagen diesen Jahres sind es schon 61 Frauen. Deniz Özlem Bilgili von der feministischen "Plattform wir werden die Frauenmorde stoppen" (Kadin Cinayetlerini Durduracagiz Platformu) sagt gar, dass in der Regierungszeit der AKP die Frauenmorde um 1400 Prozent zugenommen hätten.

Ohne nachprüfen zu können ob diese Zahlen stimmen, kann man die tägliche frauenfeindliche Gesinnung sehen: der Ministerpräsident kann sich ohne sich zu schämen hinstellen und sagen, er erwarte von jeder türkischen Frau mindestens drei Kinder und im staatlichen Fernsehen redet ein regierungsnaher Theologe davon, dass schwangere Frauen sich nicht in der Öffentlichkeit zeigen sollen, weil das unästhetisch und beschämend wäre. Erdogan bezeichnet Schwangerschaftsabbrüche, ganz der westliche "Lebensschützer", als "Massenmord an ungeborenem Leben".

Als die Regierung nach wütenden Protesten von Frauenorganisationen ein neues Gesetz verabschiedete, das Morde an Frauen verhindern soll, nannte sie es das "Gesetz zum Schutze der Familie und zur Verhinderung der Gewalt gegen die Frauen Denn nach ihrer Ideologie gehört das zusammen; dass die meisten Gewalttaten gegenüber Frauen, wie überall auf der Welt, in der Familie begangen werden, passt nicht in ihr Weltbild.

Juni 2014


Bildunterschriften der im Schattenblick nicht veröffentlichten Abbildungen der Originalpublikation:

Abb. S. 3:
Hass auf die Arbeiterklasse: 13. Mai 2014, noch weiß man nicht wieviele Kumpel im Bergwerk von Soma gestorben sind. Als Ministerpräsident Erdogan auftaucht, wird er von Kumpels und Bevölkerung ausgebuht. Einer der Protestierenden wird von einem Berater des Ministerpräsidenten in Zusammenarbeit mit paramilitärischer Gendarmerie zusammengetreten.

Abb. S. 4:
Auf dem Polizeischild steht "Gesetz"
Aus dem türkischen Tageszeitung Evrensel

Abb. S. 5:
Die Beschäftigten eines großen Kraftwerks im Westen der Türkei, Yatagan, streiken gegen die Privatisierung. In den letzten Tagen demonstrierten sie mit den Kumpels des ebenfalls im Westen der Türkei liegenden Bergwerks Soma, gegen Privatisierung, Subunternehmertum und für Arbeitssicherheit. Im Streik sind zur Zeit auch 5.500 Glashüttenarbeiter für höhere Löhne, außerdem wehren sich hunderte Arbeiterinnen und Arbeiter einer Großmolkerei gegen ihre Kündigung, weil sie sich in der Gewerkschaft organisiert haben.

Abb. S. 6:
"Der Mann schlägt, der Staat schützt", Frauendemonstration

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Quelle:
Arbeiterstimme Nr. 184 - Sommer 2014, Seite 1 + 3 bis 6
Verleger: Thomas Gradl, Bucherstr. 20, 90408 Nürnberg
E-Mail: redaktion@arbeiterstimme.org
Internet: www.arbeiterstimme.org
 
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veröffentlicht im Schattenblick zum 29. Juli 2014