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ARBEITERSTIMME/236: Erfolge und Widersprüche der Kommunistischen Partei Chinas


Arbeiterstimme, Frühjahr 2011, Nr. 171
Zeitschrift für die marxistische Theorie und Praxis
- Die Befreiung der Arbeiterklasse muß das Werk der Arbeiter selbst sein! -

Welche Blumen blühen?
Erfolge und Widersprüche der Kommunistischen Partei Chinas

Von Prof. Dr. Gerhard Armanski, 1. Juli 2010


Wie so oft ist das zeitgenössische China ohne den Rückgriff auf die (Zeit)Geschichte nicht zu verstehen. Nachdem die junge KP sich auf Stalins Geheiß in eine Koalition mit der Guomintang gefügt hatte, wurde sie von dieser beinahe ausgerottet. Was noch übrig war, zog sich in raue Gebiete zurück, wo sie regionale Regime errichteten und vom Klassenfeind, wohlhabenden Bauern und Händlern, lebten. Ihr nunmehriger Führer Mao Dsedong hatte als junger Mann die Grundbesitzerherrschaft kennen und hassen gelernt. Ein brutaler Bauernaufstand, den er miterlebte, lehrte ihn die revolutionäre Gewalt. Abweichend von der marxistischen Orthodoxie sah er in den unterdrückten Bauernmassen den Motor der Revolution. "Die menschliche Natur liebt Veränderungen", schrieb er damals, "wir lieben es, auf einem Meer des Aufruhrs zu segeln." Seine Herrschaft sicherte er weniger durch Agitation als durch Terror. Nach weiterer Verfolgung durch Chiang Kaisheks Truppen und der Flucht auf dem legendären Langen Marsch waren gerade noch 30.000 Kommunisten übrig geblieben.

Und auch mit diesen wäre es bald zu Ende gewesen, wenn ihnen nicht ein unerwartetes Ereignis den Ball zugespielt hätte: die japanische Invasion Chinas ab 1937. Denn jetzt waren die gegnerischen Streitkräfte gebunden und das Kräfteverhältnis besserte sich. In dem Bürgerkrieg nach 1945 erlebte die perspektivlose Guomindang ihr Stalingrad und zog sich nach Taiwan zurück. Die Kommunisten hatten schließlich auch dank der sowjetischen Präsenz in der Mandschurei und deren Waffenhilfe gesiegt. Nun konnten sie revolutionärer auftreten. Überall, wo sie hinkamen, entfachten sie den Klassenkampf gegen die reichen Grundbesitzer, die als objektive Feinde hingerichtet wurden und deren Land zur Verteilung an die Bauern kam. Am 1. Oktober rief Mao Zhuxi (= Vorsitzender) auf dem Tiananmen-Platz vor 200.000 Menschen die kommunistische Republik mit dem legendären Satz aus: "China ist aufgestanden." China trat nun auch in die Regionalpolitik ein, indem es z.B. in Korea intervenierte. Die Führung unter Mao wollte das Land zur militärischen (auch nuklearen) Großmacht erheben, während die gequälten Chinesen genug Essen, wie auch die Einheit des Landes ohne koloniale Einmischung, erhofften. Für Mao waren sie nur weisses Papier, auf dem er die gewünschten Schriftzeichen anbringen konnte. Seine innen- und außenpolitischen Ambitionen konnten auf dem niedrigen Stand der Produktivkräfte nur durch der Landbevölkerung abgepresste Exportproduktion möglich werden, während ihr Lebensstandard sich mit der eisernen Reisschüssel begnügen musste. Die Bauern sollten zur militärisch disziplinierten Arbeitsarmee geformt werden.

Diese Absicht und der voluntaristische Große Sprung nach vorn endeten mit einer gewaltigen Katastrophe, die Millionen Menschen das Leben kostete. Selbst verdienstvolle Partei- und Heerführer wurden fortan zu den demütigenden Ritualen der Selbstkritik gezwungen. Auch Deng Xiaoping fiel darunter. Noch gravierender wirkte sich Maos letzter Versuch, die Geschichte nach seiner Pfeife tanzen zu lassen, aus, nämlich die Große Proletarische Kulturrevolution. Vor dem Hintergrund einer Sackgasse der sozioökonomischen Entwicklung inszenierte er eine Jugendrevolte gegen das "überlebte alte China", die abermals viele Opfer und zerstörte Lebensentwürfe mit sich brachte. Es war ein in der chinesischen Geschichte beispielloser Machtkampf. Alles in allem sollen etwa 70 Millionen Menschen während Maos Herrschaft ihr Leben gewaltsam verloren haben. China glich einer großen Galeere mit schwerlich freiwilligen Ruderern unter dem Kommando des "Großen Steuermannes". Das muss erschrecken und beschämen und straft die Blauäugigkeit damaliger deutscher Maoisten Lügen. Gleichwohl ist Mao trotz seines Blutsäufertums eine historische Genialität im strategisch-politischen Erfassen der chinesischen Klassenverhältnisse und des Hebels, sie umzuwälzen, nicht abzusprechen - und genau auf diese beziehen sich seine heutigen Nachfolger.

So wurde er zum Gründungsvater der zweiten chinesischen Republik. Wie es mit solchen Politheroen gehen kann, geriet er zum legitimierenden Mythos der nachherigen KP. Nicht nur drängten sich seit 1977 bis heute ca. 160 Millionen vor dem Mausoleum mit der einbalsamierten Leiche Maos auf dem Platz des himmlischen Friedens. Dieser war seit Urzeiten eine zentrale Zeremonialstätte der chinesischen Kaiser gewesen, nun ehrte man den Urvater Mao und die blutige Niederschlagung der Studentendemonstration 1989 auf ihm, die bis heute einen Dorn im ideologischen Fleisch des Parteistaates (beide Teile sind so miteinander verflochten, dass sie nur sehr langwierig auseinander zu halten wären) bildet. Folgerichtig ist er auch Hauptquartier des Geheimdienstes. Obgleich seine Nachfolger einen seiner Politik entgegengesetzten Kurs einschlugen, nämlich den der nachholenden industriellen Entwicklung unter staatskapitalistischen Vorzeichen, wurde er ideologisch noch gebraucht. Überspitzt lässt sich sagen, dass ihr Regime nur überlebte, indem es den Sozialismus maoistischer Prägung aufgab. In der Wolkenregion ist hingegen der "Große Vorsitzende längst im Pantheon chinesischer Volksgottheiten angekommen". (Die Zeit, 1.10.2009) Seine egalitäre Lehre steht freilich im Widerspruch zu der sich heute gewaltig öffnenden Einkommensschere.

1981 zog die neue Führung unter Deng Xiaoping einen "Schlussstrich", erklärte Mao zu drei Vierteln gut und zu einem schlecht und schlug einen pragmatischen, bis heute sehr erfolgreichen Kurs ein, in den letzten Jahren mit der neuen Aura der "harmonischen Gesellschaft" versehen. Mittlerweile sieht sich der parteistaatliche Autoritarismus zusehends fragmentiert. Das geistige Vakuum durch die historische Entwicklung lässt sich allerdings nicht leicht füllen. Zwar gelten noch bzw. wieder die konfuzianischen Tugenden wie Fleiß, Sparsamkeit, Disziplin, Pietät, Gerechtigkeit und Bildung, doch ist es nicht leicht auszuloten, wie weit und tief sie greifen.

Das alte China, bei Pearl S. Buck idealisiert, war eine Gesellschaft extremer Ausbeutung und Ungerechtigkeit gewesen, das ungezählte Millionen durch die Grausamkeit der Despotie und die häufigen Kriege der Feudalherren und Großgrundbesitzer ans Messer geliefert hatte. Das sollte man bei jeder Diskussion über das zeitgenössische China nicht vergessen - jene Zeit ist gerade mal gut zwei Generationen her. Eine 1965 entstandene Figurengruppe "Hof für die Pachteinnahme", 2009 erstmals im Westen (Schirn/Frankfurt) zu sehen gewesen, thematisiert dieses Klassensymbol des Bösen. Sie gilt als Meisterwerk der modernen chinesischen Kunst, die traditionelle, sowjetische und westliche Stilelemente vereint. Höchst lebendig thematisiert sie die Misere der geschundenen Bevölkerung unter dem alten System. Obwohl sie sich dem Anspruch Maos verdankt, dass die Kunst dem Volk zu dienen habe, liefert sie ein differenziertes Schicksalstableau. Auch heute noch transportieren die Skulpturen einen Teil der Identität des modernen China. Als Meisterwerk der Weltkunstgeschichte (laut Liste der UNESCO) beflügelt der "Hof für die Pachteinnahme" auch heute noch die Utopie einer gerechten Welt.

Heute hingegen ist China eine boomende Wirtschaftsmacht. Die Unternehmen sind weitgehend privatisiert, ausländisches Investivkapital strömt ins Land, neue soziale Schichten bilden sich heraus, innovative Produktionsweisen, Wissenschaft und Technologie blühen (Weltraumfahrt!). Die großen Städte haben ihresgleichen nicht in der Welt. Seit einer Generation hat es keine Hungersnot mehr gegeben, 600 Millionen Menschen sind aus bitterer Armut gehoben worden. Für bescheidene und zahlungskräftige Käufer liefert der Markt ein großes Angebot. Wieder findet ein "Großer Sprung" statt, diesmal aber definitiv in die Moderne. Das Leben wird bunter und vielseitiger, während die Ideologie an den Rand getreten ist. Wo Licht ist, fehlt freilich der Schatten nicht. Im Falle Chinas besteht er vor allem aus den Risiken einer hochkomplex gewordenen sozialen und politischen Entwicklung sowie einem bisher sorglosen und verschwenderischen Umgang mit Umwelt und Natur. Gerade hiergegen richten sich sowohl neue Politiken der Führung wie das wachsende Aufbegehren von unten. Bei all dem bildet die KP die zentrale Achse des Prozesses, von deren Drehmomenten wie vom Engagement der Bevölkerung die chinesische Zukunft abhängen wird.


Parteistaat und auflebender Klassenkampf

"Unsere großen Aufgaben sind, erstens, die Entwicklung der gesellschaftlichen Produktivkräfte und, zweitens, die Förderung von sozialer Gerechtigkeit und Fairness", ließ sich Premier Wen Jiabao zum Abschluss des Volkskongresses 2007 vernehmen - das gilt auch heute unverändert. Auf die Neuerungen seither wird unten eingegangen. Offen gestand Wen die hinkende Produktivität und das noch unreife sozialistische System ein. Die Führung weiß sehr wohl (darin den Mandarinen, hohen Staatsbeamten des alten China, vergleichbar), wie unsicher, instabil und wenig nachhaltig die gesellschaftliche Entwicklung ist, der sie sich verschrieben hat. Längst ist die KP keine monolithische Einheit mehr. Nicht nur beherbergt sie verschiedene Fraktionen, sie tritt auch in einer Politikmischung verschiedener Akteure auf. Unterschiedliche Modelle und Entwicklungspfade zirkulieren, die in der Partei verhandelbar und von der öffentlichen Meinung beeinflusst sind. Ein Hauptpfund, mit dem die chinesischen Kommunisten wuchern können, ist nach Th. Bergmann, einem intimen Kenner Chinas, ihre Fähigkeit, den Geschichtsprozess als einen dialektisch offenen zu begreifen. Der Paradigmenwechsel hin zu Markt und Harmonie hat die KP von einer Klassen- zur Volkspartei werden lassen, in der gut ausgebildete und professionelle obere Kader sowie Beamte den Ton angeben. Die kritische Intelligenz bekämpft sie nicht, sondern versucht, einer good governance (Regierungskompetenz) den Rücken zu stärken. Die Partei strebt an, das System über die erfolgreiche modernisierende Entwicklung und nationale Stärke zu legitimieren.

Dang (Partei) ist mit ca. 80 Millionen Mitgliedern die zahlenmäßig größte politische Organisation der Welt. Ihre Sekretäre sitzen in jedem relevanten Betrieb sowie gesellschaftlichen und staatlichen Organisationen. An ihr kommt man ideologisch und praktisch nicht vorbei, wenn man Karriere und öffentliches Ansehen im Blick hat. An großen Universitäten sind oft ¾ des Lehrpersonals in der Partei. Die Mitgliedschaft allein garantiert aber nicht den Aufstieg. Eine gute Qualifikation vorausgesetzt, spielen auch Seilschaften und Wohlstand eine große Rolle. Natürlich kann man mit Geld auch außerhalb der Partei voran kommen. Diese verfügt aber über einen entscheidenden Vorteil gegenüber dem Rest der Gesellschaft. Je höher und dünner die politische Luft in ihr ist, desto offener geht es zu. Das mag hinter der Parole "Demokratisierung der Partei" auf dem 17. Parteitag stecken. Die "konservative Demokratisierung", die m.E. die Hauptströmung stellt, kreist um die Frage, wie Machterhalt und Stabilität einerseits und politischer Spielraum andererseits miteinander zu vereinen seien. Hierin nimmt man sich ausdrücklich und ausgerechnet das Modell der LDP (Liberaldemokratische Partei) des ansonsten wenig geliebten Japan zum Vorbild. Danach soll die Partei zwar weiter das Machtzentrum des Landes bilden, aber unterschiedliche gesellschaftliche Milieus und entsprechende Debatten zulassen. Auch über das europäische und nordamerikanische Modell wird nachgedacht. Gäbe es mehr Konsens als Konflikt, sei die Stabilität gewährleistet.

Die Hälfte der Mitglieder ist weniger als 45 Jahre alt, von den jüngst Eingetretenen sind gar 80 % unter 35 - Männer, denn Frauen sind weit unterrepräsentiert. Sie haben Talent und wollen reich werden. So manche KP-Zelle ist nicht mehr als ein Freizeitklub; die offiziellen Tiraden rauschen an ihr vorbei. Die Partei vertritt nicht nur Arbeiter und Bauern, sondern zunehmend Reiche und Mächtige sowie vor allem die expandierende Mittelklasse. Lang, lang ist's her, dass über die Boulevards Pekings Menschenmassen in blauen Mao-Anzügen marschierten und dabei die rote Mao-Bibel schwenkten. Ansonsten fuhren auf ihnen fast nur Fahrräder. Heute sind sie verstopft; von der Peripherie ins Zentrum braucht man im Auto Stunden.

Die Partei lässt allerdings keineswegs jeden zu. Vielmehr prüft das Organisationsbüro sorgfältig, wie sich die Anwärter aufführen und wohin sie neigen. Sein Votum ist ausschlaggebend und meistens zutreffend. Fraktionelle Unterstützung und persönlich-politisches Ansehen genügen nicht. Es werden die ideologische Rechtschaffenheit, Arbeitshaltung und mobilisierende Kraft geprüft. Die Auslese ist scharf. An der Uni Shandong z.B. wurden von den Studienanfängern nur 10, von den fortgeschrittenen Studenten 40 % aufgenommen. Dabei waren in diesem Fall gute Studienleistung, positiver Umgangsstil und zurückhaltendes Benehmen und Kleidung ausschlaggebend. In diesem Prozeß der Aufnahme und des Aufstiegs ergänzt sich die führende Organisation des Landes durch Kooptieren selbst. Von der o.g. Mitgliederzahl stammen 3 Millionen aus privaten Betrieben, 800.000 waren selbständig und noch 600.000 kommen aus ausländischen Unternehmen. "All diese neuen Leiter ziehen ihren Vorteil aus dem Vorgang des Aussiebens nach Verdienst, das vor mehr als 20 Jahren durch Deng Xiaoping eingeführt worden war. Dieser setzte die historischen ökonomischen Reformen in Gang und förderte das Programm der 'vier Verwandlungen'. Mit diesem sollten kommunistische Führer hervorgebracht werden, die ihm gemäß 'revolutionär, jünger, kenntnisreicher und spezialisierter' sein sollten." (New York Review of Books, 26.9.2002) Keiner von ihnen kann und will das Herrschaftsmonopol der KP in Frage stellen und wird tunlichst eines ihrer Hauptprobleme, nämlich Korruption und Machtmissbrauch, übersehen. Darin wird auch die Gefahr erkannt, den politisch wirksamen Kontakt mit den Massen herzustellen und zu sichern. In der Antwort darauf zeigen sich zwei Lager; während die einen auf die interne Supervision setzen, halten die anderen zusätzlich einen demokratischen Prozess für notwendig. Es solle einen freieren Kandidatenwettbewerb geben, und auch die Presse solle offener auftreten können. Von der Partei unabhängige Bauern-, Arbeiter- oder Studentenorganisationen will erkennbar niemand. Doch scheint sie, anders als die KPdSU-Nomenklatura, ein zutreffendes Bild der gesellschaftlichen Wirklichkeit zu besitzen.

Der sich abzeichnende moderate Reformkurs hängt mit Sicherheit mit der gestiegenen Qualifikation besonders mittlerer und höherer Kader zusammen. Sie sind weder revolutionär noch irrlaufend. In der ungefähren Mitte ihres Lebens (ca. 50 Jahre) haben sie einen weiteren bedeutenden Vorzug: Erfahrung. Auch beherrschen sie die notwendige politische Dialektik und Sprechweisen der Zeiten, da sie noch die Mao-Zeit, die Deng-Reformen und die Studententenunruhen miterlebt haben. Eines wollen sie vor allem nicht: selbst Opfer werden. Da kann es schon einmal vorkommen, dass ein alter Rotgardist und heutiger Geschäftsmann gute Beziehungen zu seinem einstigen Gegner pflegt. Da kann es ebenso vorkommen, dass eine zornige Gruppe alter Parteiveteranen Systemkritik übt und mehr Demokratie einfordert. Du Daozheng, 86, verlangt den politischen Wandel. "Ohne das Volk und ohne die Wahrheit wird die Partei zusammenfallen", sagt er. (Der Spiegel, 40/2009) Die behutsamen Demokraten wollen durchaus die Ordnung und ihre eigene soziale Stellung aufrecht erhalten, aber sie verbinden das mit zunehmender Sensibilität und Reformbereitschaft für die im Dunkeln, die man nach Brecht nicht sieht, in hiesiger Lesart also das ländliche und städtische Prekariat. Sie sind gesonnen, die vorhandenen sozialfreundlichen Gesetze entschiedener und nachdrücklicher durchzusetzen. Das ist nicht einfach Taktik. Schließlich sind sie selbst Teil der politischen Klasse und haben aus den Wirtschaftsreformen ihren Honig gezogen. Sie gehören sozial zur Mittelschicht (das muss hier undifferenziert erstmal stehen bleiben) und haben an deren Lebenschancen Teil. Sie unterstützen aber die sozial Benachteiligten gegen die Raifkes und wissen auch für sich selbst um die Vorteile individueller und kollektiver politischer Rechte. Wahlen erscheinen ihnen verfrüht, weil sie nur Chaos und Gewalt hervorbringen würden. Auch sollen die Wanderarbeiter erstmal auf die Höhe der Zivilisation gelangen, welche jene wiederum anstreben, worunter sie vor allem ein besseres Leben für ihre Kinder verstehen. Langsam entwickeln Partei und Gesellschaft mehr Anteilnahme für sie. Wenn die mittleren und höheren Funktionäre Stabilität plus vorsichtige Reformen wollen, entspricht das ihrem ureigenen Interesse, das mit dem der Partei zusammenfällt. Mutig ist es allemal, zumal es unter hohen Behördenleitern und Hochschul- wie Unternehmenschefs manch strammen Reformgegner gibt. Die wollen nicht, daß ihnen die Felle weg schwimmen.

Die umrissene Gemengelage widerspiegelt die Ungleichzeitigkeiten des gesellschaftlichen Prozesses selbst. Meiner Auffassung nach scheinen weder die Rückkehr zum Konfuzianismus noch die diffuse Linke außerhalb der Partei, noch eine Rekollektivierung und -egalisierung den passenden ideellen Überbau abzugeben. Eher zeichnet sich eine tastende Suche nach einem chinesischen Wohlfahrtsmodell ab. Wird die begründete Hoffnung der Massen auf eine bessere Zukunft enttäuscht, kann es zu einer sozialen Explosion kommen wie so oft in der Geschichte des Reichs der Mitte, wenn ein Kaiser in seiner Fürsorgepflicht versagte. Der gegenwärtige wirtschaftswissenschaftliche Diskurs besagt, dass es systemwichtig sei, die Wirtschaft durch vermehrte Sicherheit und Einkommen der unteren Schichten anzukurbeln. Die KP ist's zufrieden. Während die Partei gern symbolische Politik betreibt, hat sie doch in den Bereichen soziale Sicherung, Steuerentlastung für die Bauern, gelockerte Kontrolle von Migration und sozialen Bewegungen einiges unternommen. Die Demokratisierung des Dorfes allerdings wird sehr zögerlich vorangetrieben. Ob sich die Besserung der sozialen Lage mit straffer politischer Führung verträgt, wird erst noch zu sehen sein. Ähnlich wie der Westen in seiner historisch-politischen Entwicklung fürchten die Machthaber weniger die Revolution in der Revolution als das Chaos. Ohne die Achse des Parteistaats als ideeller Gesamtgesellschafter würden die vorhandenen zentrifugalen Kräfte das allmählich sich verändernde politische und ökonomische Gehäuse sprengen. Das weiß auch die Partei und sie ist darum in der Regel progressiver als die unteren Behörden und Funktionäre, die aus willkürlichen Gewaltakten vor allem gegen die ländliche Bevölkerung (Enteignungen), Ausbeutung der Wanderarbeiter und der Korruption erkleckliche Gewinne schlagen. Daher rührt die außerordentlich scharfe Gesetzgebung gegen Bestechlichkeit mit häufigen Todesurteilen, die von Amnesty International ebenso berechtigt wie abstrakt verurteilt werden.

Es kann kein Zweifel daran bestehen, dass Dissidenten schlechte Karten haben. Noch immer bildet das Massaker vom Tiananmen-Platz eine Art sozialmoralische und politische Achillesferse des politischen Systems. Ein reumütiger Täter (ehemaliger Soldat) richtete Schreiben an die Partei und deren "politische Weisheit und Moral", diese "Tragödie der Nation" aufzuklären und die Wahrheit zu ermitteln. (Die Welt, 23.3.2009) Als das nichts half, wandte er sich via Internet an die Öffentlichkeit. Dies und weitere Dissidenz brachten ihm indes mehrere Jahre Lagerhaft ein. Auch wenn China seither ein anderes Land geworden ist und seinen Bürgern ungeahnte politische und wirtschaftliche Freiheiten gewährt, bleibt der 4. Juni 1989 tabu. Es gibt eine widerliche Polizeipsychiatrie gegen Oppositionelle. Zensur findet ebenso statt wie das wachsende Aufbegehren gegen sie. Die chinesischen Internetnutzer sind im Visier der staatlichen Kontrolleure, die aber nicht alles jederzeit etwa durch ca. 3 Millionen installierte Überwachungskameras erfassen können. Cyber-Attacken und restriktive Vorgaben gehören zum Alltag. Auch aus diesem Grund bekam Google in China die rote Karte. "Dass die strikte Kontrolle der Öffentlichkeit durch die kommunistische Partei der Stabilität dient, wird auch in. der zugelassenen chinesischen Presse bezweifelt. Journalisten und Wissenschaftler weisen darauf hin, dass der offene Umgang mit Kritik, auch mit unberechtigter oder bösartiger, zuletzt mehr Stabilität einbringt als das Verschweigen und die Gerüchteküche." (Freitag, 8.8.2008) Der Geist weht aber bekanntlich nach Paulus, wohin er will, neuerdings im halboffenen konfrontativen Stil der chinesischen Rapper. Der bekannteste Biogenetiker der Nation, Chen Zhangliang, zeigt sich davon überzeugt, bereits jetzt sei "die chinesische Gesellschaft insgesamt heute freier als je zuvor." (Die Zeit, 7.11.2002)

Der Diskurs muss an dieser Stelle in zwei Bereichen unterbrochen werden, weil er sonst den Rahmen sprengen würde. Das betrifft zum einen die desolate ökologische Lage, wozu es mittlerweile erdrückendes Material gibt und auch die Parteiführung Besserung gelobt hat. "Das Wirtschaftswunder hat einen hohen Preis. China ist nicht mir die größte Fabrik, sondern auch die größte Müllkippe der Neuzeit." (stern, 51/2005) Die zweite Frage ist die nach der Rolle der Privatwirtschaft. Das Wertgesetz wird von den staatlichen Fabriken nicht konterkariert, sondern allenfalls modifiziert. In der primären sozialistischen Akkumulation herrscht meistenteils (staatlich gemilderte und eingehegte) Ausbeutung in frühkapitalistischen Formen. (vgl. Engels, Zur Lage der arbeitenden Klasse in England) D.h., China steht heute in etwa da, wo England vor 250 Jahren, Frankreich und Deutschland vor 150 standen und es durchläuft deren Entwicklung in komprimierter Weise. Damals formierten sich die nationalen Kapitalistenklassen, die alsbald auch die politische Führung übernahmen. Wie sich die politischen Zügel in der Hand der Partei, die wirtschaftlichen Entwicklungstendenzen unter staatskapitalistischer Ägide zueinander verhalten und auf was sie historisch hinauslaufen, ist durchaus offen.

Es ist unverkennbar, dass die sozialen Konflikte zunehmen und teilweise klassenkampfähnliche Formen annehmen. Die riesige Mehrheit der bäuerlichen Bevölkerung gehört zu den Verlierern der Reformen." Markt gibt nichts auf Tränen", weiss sie. Mit dem plötzlichen Einbruch der Geldwirtschaft kommt sie nicht mit. Aus ihr sowie der ebenso jungen wie disparaten Arbeiterklasse wird das Mehrprodukt für die Entwicklung des Landes geschöpft - infolge der Produktion und der Arbeitskräfte, die durch Millionen von bäuerlichen Wanderarbeitern anschwellen. Die zur "Idiotie des Landlebens" (Marx) gewordene Situation, abgeschnitten von den Segnungen des Aufschwungs, ist auch durch willkürliche Enteignungen z.B. beim Staudammbau und eher noch mehr durch profitlich orientierte Gangsterbanden, hohe Steuern und zusätzlich erpresste Abgaben gekennzeichnet - und das bei einer strukturell schrumpfenden und übernutzten Ackerfläche. Ein Kampf um Grund und Boden ist entbrannt, in dem die Bauern für die Ausbeutung von Rohstoffen weichen sollen. Immer mehr von ihnen wissen indes, dass ihnen die Propaganda vom schönen Dorfsozialismus nicht weiterhilft. "Sie fordern nicht neue Gelder, sondern das Recht, nicht wie Vieh behandelt zu werden. Sie wollen gerechte Strafen für Schlägerkommandos und deren Bosse. ... Sie fordern, dass ihr Boden- und Dorfeigentum, nach dem landauf, landab die Investoren gieren, nicht enteignet wird." (Die Zeit, 9.3.2006) Die Staatsgewalt greift zwar nicht gegen die noch vereinzelten Proteste ein, hält sich aber auch mit progressiven Reformen zurück. Sie hat verkündet, dass sie in diesen Fragen gegen Korruption, Behördenwillkür und privat organisierte Gewalt vorgehen will. "Dass die Kampagne nicht nur die Symptome kurieren, sondern das Übel an der Wurzel packen will, zeigt allein schon die Tatsache, daß in Zukunft, um Missstände zu unterbinden, unabhängige Kontrollinstanzen Polizei- und Justizbehörden überwachen sollen." (Die Welt, 15.4.2009) Das ist nicht nur auf das Landleben gemünzt, sondern auch auf die fehlende Rechtskultur und polizeiliche Ausschreitungen insgesamt.

In der industriellen Arbeitswelt herrschen eine rigide Taylorisierung und hohe Ausbeutungsraten vor, wenn auch in den expandierenden Exportindustrien, eher großfamilialen Staatsfirmen und ausländischen Betrieben unterschiedlich ausgeprägt.

Schließlich arbeitet ein großer Teil der Beschäftigten im zuliefernden und informellen Sektor. Die daraus folgenden unterschiedlichen sozioökonomischen und mentalen Strukturen sowie in der Regel bisher disziplinierende staatliche Eingriffe erschweren oppositionelle Bewegungen und unabhängige gewerkschaftliche Organisation jenseits der regierungsfrommen Gewerkschaftsverbände. Hinzu kommt als Zuckerbrot die Subventionierung gesellschaftlicher Grundbedürfnisse, die nebenbei den Wert der Ware Arbeitskraft senkt.

Trotz der Isolation der ländlichen Bevölkerung und der zerklüfteten Arbeiterklasse weiten sich Konflikte um das Gemeineigentum sowie im Betrieb aus. Entgegen hiesigen Annahmen ist China das streikfreudigste Land der Welt, das im Schnitt 100 lokale Aufstände und Streiks pro Jahr zählt. Neulich sind die meist jungen Wanderarbeiter einer Türschloss-Fabrik von Honda in einen lauten und heftigen Streik um höhere Löhne getreten. Bislang betrugen sie 900 Yuan (ca. 100 Euro) pro Monat, wovon der Arbeiter nicht nur sich, sondern ganze Familien in den Heimatdörfern unterhalten musste. Eine Vermittlung durch die kommunistisch kontrollierte Staatsgewerkschaft lehnten sie ab. Begonnen hatte der Ausstand nach einer spektakulären Selbstmordserie in taiwanesischen Foxconn-Betrieben (Elektronik), die vermutlich ihre Ursache in überstrengen Management-Methoden, häufigen Überstunden (Arbeitstage von 12-14 Stunden an sieben Tagen die Woche sind keine Seltenheit) und der Entfremdung der ehedem bäuerlichen Arbeiter hat. Darüber hinaus werden generell Arbeitsbedingungen und -sicherheit klein geschrieben. Immer wieder kommt es u.a. durch Profitgier und Schlamperei zu opferreichen Bergwerksunglücken. Bei dem Brand in einer Schuhfabrik in der Provinz Fujian sind jüngst knapp 40 Arbeiter ums Leben gekommen. Viele solcher Betriebe sind illegal.

Die Staatsgewalt hielt sich bei diesen erfolgreichen Arbeiterprotesten auffällig zurück. Auch der Regierung sind die miserablen Arbeitsverhältnisse nicht entgangen. Nach einer Recherche der regierungsnahen Global Times ist die Lohnquote in den letzten drei Jahren von 53,4 auf 39,7% gesunken, während die Unternehmensgewinne von 21,2 auf 31,3% hochschossen. Angesichts solcher Tendenzen und der sich verschärfenden Einkommensungleichheit sorgt sich die Regierung zurecht um die soziale Stabilität. Nach dem neuen Arbeitsgesetz haben alle Beschäftigten ein Anrecht auf einen schriftlichen, nach zwei Zeitverträgen unbefristeten Vertrag und auf eine Entschädigung bei Entlassung. Der willkürlichen Regie über eine flexible Arbeitermasse - ein Grund für den Boom der arbeitsintensiven Exportindustrien und Produktionsverlagerungen nach China - wäre damit ein Riegel vorgeschoben. Spontane Aufstände und wilde Streiks sowie die sie begleitende öffentliche Debatte sind erste Sturmvögel des anhebenden Klassenkampfs. Ob Partei und Regierung den neueren Herausforderungen gewachsen sind, wird zu sehen sein. Immerhin sind sie lernfähiger, als die Sowjetunion seit Mitte der 20er Jahre je gewesen ist. Es ist freilich nicht ausgemacht, dass sie gegenüber den anschwellenden Protesten und Konflikten nicht ins Hintertreffen geraten, zumal diese meist nicht von Gruppen außerhalb des Systems oder gar gegen das selbe betrieben werden, sondern immer mehr von innen.

Die KP-Herrschaft ist nicht mehr strikt und allgemein durchsetzbar. Sie will die Produktivkräfte entfesseln und zugleich den Produktionsverhältnissen allgemeine Grenzen setzen - ein wahrer Tigerritt. "China ist an einem Punkt angekommen", äußerte der Maler und Kunstpädagoge Ai Weiwei, der auch auf der Documenta in Kassel ausgestellt hatte, "von dem es kein Zurück mehr gibt. Ob Weltwirtschaft oder internationale Politik" und Inneres, "wenn Chinas Führung überleben will, muss sie den Anschluss finden" (Handelsblatt, 1.1.2008) an die Zeichen der Zeit. Die Zivilgesellschaft, mittlerweile von der Regierung anerkannt, stellt zur Zeit ca. 200.000 Organisationen auf bezirklicher und nationaler Ebene. Die ökonomischen und politischen Reformen haben ihnen ein günstiges Umfeld bereitet. Als organisatorisches Glied zwischen Regierung und Volk vermitteln sie in Fragen des Arbeits- und Umweltschutzes. Durch Konferenzen, Ausbildungskurse und Seminare stellen sie Informationen bereit und fördern nach Kräften die soziale Identität. Darüber hinaus betreiben sie soziale Wohlfahrtsprojekte. Dem bisherigen parteistaatlich geförderten "autoritären Kommunitarismus" (Heberer) stellen sie das sich verbreitende Verlangen nach wachsendem Konsum sowie partizipatorische und freiheitliche Rechte gegenüber. Besonders die "Intelligentsia" und Leiter von Massenorganisationen wirken im Hintergrund, aber durchaus spürbar, für soziale Anliegen, etwa den Schutz gegen betrügerische Makler oder Hausverwaltungen. Journalisten haben immer öfter die Chuzpe, Missstände im Land aufzuklären - und gelangen damit sogar in den Weltspiegel der ARD. Vielleicht gelingt der Parteiführung eine Balance zwischen marktsozialistischen Träumen, good governance und dem kruden kapitalistischen Alltag. An ihren Vorhaben für die nächsten Jahre mag man ablesen, wohin der Hase läuft. Obenan stehen die Steigerung der Energieeffizienz um 20%, die Implementierung der strengen Umweltgesetzgebung, kostenlose Schulbildung sowie eine soziale Grundsicherung und Krankenversorgung für alle. Sie sollen - ein Novum in der chinesischen Geschichte - auch die bäuerlichen Massen einbeziehen. Des weiteren werden steigender Lebensstandard und erhöhte Rechtssicherheit genannt. Denn noch immer lebt ca. ein Fünftel der Bevölkerung in Armut (d.h. von weniger als einem US-Dollar pro Tag). Die Ideen erinnern an Bismarck oder sozialdemokratische Staatskonzepte - made in China unter unverwechselbaren Bedingungen.


Quellen:

Die ersten Informationen verdanke ich meinen eigenen Reisen nach China sowie chinesischen, englischen und deutschen Publikationen. Die angegebenen Zitate und Zahlen stammen als aktuelle aus der Tages- und Wochenpresse und können hier unmöglich alle aufgeführt werden.

Als Hintergrundliteratur dienten u.a.: Edition Le monde diplomatique: China. Verordnete Harmonie, entfesselter Klassenkampf. Berlin 2007 Markus Taube: Chinas Rückkehr in die Weltgemeinschaft. Triebkräfte und Widerstände auf dem Weg zu einem "Global Player". Duisburg: Ostwissenschaftliches Institut der Universität 2003

Helmut Peters: China zwischen Gestern und Morgen. München: Institut für sozial-ökologische Wirtschaftsforschung 2005 GeoEpoche: Das Alte China. Hamburg o.J.

Martin Guan Djien Chan: Der erwachte Drache. Großmacht China im 21. Jahrhundert. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 2008

Hyekyung Cho: Chinas langer Marsch in den Kapitalismus. Münster: Westfälisches Dampfboot 2005

Theodor Bergmann: Rotes China im 21. Jahrhundert. Hamburg: vsa 2004

Peter O. Oberender: China im Aufbruch. Hintergründe und Perspektiven eines Systemwandels. Bayreuth: P.C.O. 2004

Welttrends. Zeitschrift für internationale Politik und vergleichende Studien: Rotes China Global. Potsdam 2006/2007

Wolfgang Hirn: Angriff aus Asien. Wie uns die neuen Wirtschaftsmächte überholen. Frankfurt: S. Fischer 2007

Urs Schoettli: China. Die neue Weltmacht. Paderborn u.a.: Schöningh 2007

Oliver August: Auf der Suche nach dem roten Tycoon. Chinas kapitalistische Revolution. Frankfurt: Eichborn 2007

Frank Sieren: Der China Code. Wie das boomende Reich der Mitte Deutschland verändert. Berlin: Ullstein 2005


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Quelle:
Arbeiterstimme, Nr. 171, Frühjahr 2011, S. 18-23
Verleger: Thomas Gradl, Postfach 910307, 90261 Nürnberg
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veröffentlicht im Schattenblick zum 20. Mai 2011