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ARBEITERSTIMME/222: Die Erschaffung einer rechten Dominanz in Chile - Teil 2


Arbeiterstimme, Sommer 2010, Nr. 168
Zeitschrift für die marxistische Theorie und Praxis
- Die Befreiung der Arbeiterklasse muß das Werk der Arbeiter selbst sein! -

Die Erschaffung einer rechten Dominanz in Chile

Teil 2: Die Absichten der Generäle und das Wiedererwachen des sozialen Lebens


Der erste Teil dieser Arbeit handelte von den gravierenden Differenzen innerhalb der chilenischen Linken. (*) Sie führten die Unidad Popular in die Handlungsunfähigkeit. Ein notwendiger politischer Rückzug, der die gesellschaftliche Akzeptanz eines militärischen Eingreifens hätte beenden können, unterblieb. So kam es zur Katastrophe der faschistischen Diktatur. Diese außergewöhnliche Situation nutzte die Rechte zur grundsätzlichen Umgestaltung der Gesellschaft. Alle Errungenschaften aus fast 50 Jahren sozialer Kämpfe wurden geschleift und Chile zu einem neoliberalen Musterstaat geformt. Daneben ergriff man Maßnahmen um das in der Gesellschaft vorhandene linke Bewusstsein auszuradieren.

Im vorliegenden Text geht es um die Pläne der Militärregierung und das parallel dazu langsam wieder aufkeimende gesellschaftliche Leben. Die neuen Akteure bereiten den Boden für die Nationalen Protesttage gegen die Diktatur.

In der nächsten Ausgabe wird ein dritter Teil den Zeitraum der Massenbewegung gegen die Diktatur und der Verhandlungen zwischen den politischen Lagern über die Ablösung Pinochets zum Inhalt haben.


Jeder Diktator und jede mit diktatorischen Mitteln regierende Klicke steht vor dem gleichen Problem. Durch einen Staatsstreich kann man mit militärischen Mitteln die politische Macht in einem Land erobern. Durch Gefangennahme und/oder Ermordung der politischen und intellektuellen Vertreter der unterworfenen Schichten versetzt man diese zeitweilig in einen Zustand der Handlungsunfähigkeit. Doch das ist nicht von Dauer. Die Angehörigen der politisch und/oder sozial enthaupteten Klassen passen sich an die veränderten Verhältnisse an. Sie probieren aus, wie weit man unter den neuen Bedingungen bei der Verfolgung seiner Interessen gehen kann, ohne sich in zu große Gefahr zu bringen. In diesem Prozess tauchen aus der Basis der Gesellschaft neue Führungspersönlichkeiten auf. Über kurz oder lang entstehen wieder landesweite Verbände wie z.B. Gewerkschaften. Diese Zusammenschlüsse können die organisatorische Basis dafür bilden, dass die Eroberer der Macht in langwierigen Auseinandersetzungen gestürzt werden.

Dem Diktator und den von ihm vertretenen Kräften stellt sich daher die Aufgabe, mit einer Kombination aus Zugeständnissen und Repression die Besiegten zur Tolerierung der neuen Herrschaft zu bewegen. Dabei dürfen die Zugeständnisse natürlich nicht das inhaltliche Ziel, für das die Macht erobert worden ist, infrage stellen. Die Geschichte vieler - nicht nur lateinamerikanischer Länder - zeigt, dass sich solche Verhältnisse über Jahrzehnte hinweg aufrecht erhalten lassen. Doch der vorher beschriebene Prozess lässt sich nur verzögern. Sodass, abhängig von der inneren und äußeren Situation des jeweiligen Landes, die Diktaturen durch liberale revolutionäre Aufstände (z.B. Cuba) oder einen von oben gesteuerten Übergang zur Demokratie (z.B. Spanien) ihr Ende fanden.

Die Strategen der chilenischen und internationalen Bourgeoisie hatten 1973 auf folgende Frage eine Antwort zu finden. Wie muss eine zukünftige staatliche Ordnung beschaffen sein, die den Neoliberalismus unangetastet lässt und gleichzeitig von einer deutlichen Mehrheit der Bevölkerung als gesetzlicher Rahmen der Gesellschaft akzeptiert wird? Eine Militärdiktatur als Dauereinrichtung wurde zu Beginn nicht einmal von Pinochet ins Auge gefasst.


Die Geburt der neuen Verfassung

Nach dem chilenischen Standardwerk über die Zeit der Militärregierung, La Historia Oculta Del Régimen Militar, geschrieben von drei bürgerlichen Journalisten, Ascanio Cavallo, Manuel Salazar und Oscar Sepúlveda, hatte sich die Militärjunta vorgenommen die Regierungsgeschäfte 1976 wieder in zivile Hände zu legen. Bis zu diesem Zeitpunkt hätte Allende sein Amt regulär ausgeübt. Daher lud der Oberkommandierende der Luftwaffe schon wenige Tage nach dem Putsch zur Gründung einer Kommission zur Überarbeitung der Verfassung von 1925 ein. Von Seiten der Generäle gab es anfangs nur zwei Vorgaben: Erstens sollte die Bildung von Minderheitsregierungen ausgeschlossen werden. Zweitens wollte man die Wege versperrt sehen, die Allendes Rechtsanwälte gefunden hatten, um soziale Reformen auch gegen die Mehrheit des Parlamentes voranzubringen. Doch dabei blieb es nicht. Einige Jahre später erhielt die Kommission genaue Vorgaben was die Regierung von ihr erwartete.

Vorsitzender der Arbeitsgruppe wurde Enrique Ortúzar. Er war als Justizminister des rechten Präsidenten Jorge Alessandri (1958-1964) an dessen Versuch einer Überarbeitung der Konstitution beteiligt gewesen. Des Weiteren berief man Professoren des Verfassungsrechts. Unter den Mitgliedern der Kommission befand sich auch ein junger Dozent der angesehenen Katholischen Universität in Santiago, Jaime Guzmán. Er hatte sich seine Berufung redlich verdient. Als Student führte der Sympathisant der spanischen Diktatur den, letztlich erfolglosen, Widerstand gegen die Modernisierung der Strukturen an seiner in kirchlichem Besitz befindlichen Hochschule an. Später war er an der Gründung der paramilitärischen Bewegung Patria y Libertad (Vaterland und Freiheit) beteiligt. Dort schied er aber laut Wikipedia "wegen methodischer Unterschiede im Kampf gegen die Regierung Allende" aus.

Unter den Mitgliedern gab es gewisse ideologische Unterschiede, die zu heftigen inhaltlichen Auseinandersetzungen führten und schließlich das Ausscheiden einiger Herren und damit die Vereinheitlichung der politischen Bandbreite der Gruppe zur Folge hatten.

Vor diesem Hintergrund erklärt sich das Ergebnis ihrer fünfjährigen Tätigkeit. 1978 präsentierten sie nicht eine Reform der Verfassung von 1925, sondern den Entwurf eines neuen Grundgesetzes. Neben den Vorgaben von Seiten der Generäle ist das wohl das Verdienst von Jaime Guzmán. Wikipedia bezeichnet ihn als "den wichtigsten Ideologen der Verfassung von 1980". Bis zu seinem Tode 1991, er starb bei einem Anschlag der FPMR, wird er noch häufiger in wichtigen Funktionen bei der äußersten Rechten tätig.

Der nun vorliegende Entwurf wurde einer Consejo de Estado (Staatsrat) genannten Einrichtung übergeben. Laut der Historia Oculta hatte er keine wirkliche Aufgabe und diente nur der repräsentativen Einbindung ehemaliger Würdenträger. In seinen Reihen befanden sich zwei ehemalige Präsidenten und die früheren Oberbefehlshaber der Teilstreitkräfte. Es zeugt von der Intelligenz der Diktatur, dieses Gremium - zumindest gegenüber der Öffentlichkeit - mit der Ausarbeitung der neuen Verfassung zu beauftragen. Wird auf diese Weise doch der Anschein erweckt, dass die neue Konstitution nicht die Wünsche der Putschisten widerspiegelt, sondern das Ergebnis der Anstrengungen und der Sachkunde unabhängiger Persönlichkeiten ist. Schließlich konnte man davon ausgehen, dass die ehemaligen Präsidenten durchaus noch über Ansehen bei ihren Wählern verfügten.

Auf der anderen Seite barg dieses Vorgehen auch Risiken. Die hier Versammelten wirkten in Zeiten einer liberalen Demokratie und waren von ihr geprägt. Sie unterstützten die Militärs bei der Neuausrichtung des Staates im Rahmen eines zeitlich befristeten Ausnahmezustandes. Aber sie vertraten den Grundsatz, dass sich Polizei und Armee einer gewählten Regierung unterzuordnen haben. Dies wird am Agieren von Jorge Alessandri deutlich. Nach Angaben der Historia Oculta führte er das Gremium auf eine Weise, die dessen Unabhängigkeit garantieren sollte. Daher wurde der Staatsrat von der Militärregierung als eine "wirkliche Festung des ehemaligen Mandatsträgers" angesehen.

Als zwei Jahre später sein Verfassungsentwurf vorlag, wurde er von der Militärregierung mit Misstrauen beäugt. Sie berief eine ad hoc Arbeitsgruppe ein, die den Text akribisch mit dem Entwurf der Gruppe Ortúzar verglich und ihrerseits überarbeitete. Letztendlich ist diese Arbeitsgruppe für die Verfassung von 1980 verantwortlich.

Die Historia Oculta weist darauf hin, dass sich bei einem Vergleich von Alessandris Entwurf mit der endgültigen Verfassung 175 Unterschiede finden. Dabei handelt es sich um 59 fundamentale Änderungen. Die für Alessandri am wenigsten zu akzeptierende Festlegung betraf die Ernennung der Oberbefehlshaber der Streitkräfte. Da sie bis heute gilt, zitieren wir hierzu die drei chilenischen Journalisten: "Alessandri hatte festgestellt, dass diese Bevormundung den Präsidenten unbeweglich macht und ihn praktisch dazu zwingt die Streitkräfte in die Regierung einzubeziehen."

Trotz seiner massiven Probleme mit dem Verfassungstext, der nun zur Volksabstimmung vorgelegt werden soll, bleibt Alessandri treu an der Seite der Putschisten. Seine divergierenden Ansichten übermittelt er der Militärregierung. Diese ist zwar weiterhin darum bemüht ihn einzubinden, geht aber nicht auf seine Einwände ein. Dessen ungeachtet bleibt er in den Wochen vor dem Plebiszit stumm. Die Öffentlichkeit erfährt nichts von seinen tatsächlichen Standpunkten da er das Projekt nicht gefährden will. Selbst nach der Abstimmung gibt er seine Einwilligung, dass die Militärregierung sein Rücktrittsgesuch erst dann veröffentlichen darf, wenn es ihr opportun erscheint.


Die verzweifelte Suche der Angehörigen

Während die Basis für das zukünftige Chile gezimmert wurde erwachte die chilenische Gesellschaft langsam zu neuem Leben. Der Schockzustand in den sie durch den Putsch gestürzt war begann sich vorsichtig zu lösen.

Als erste traten die Angehörigen der Verhafteten und Verschwundenen an die Öffentlichkeit. Die Regierung behauptete, nichts mit der Festnahme dieser Menschen zu tun zu haben. So begannen die Ehefrauen und Mütter auf eigene Faust mit der Suche nach ihren Angehörigen. Ein zutiefst menschliches Anliegen gegen das man eigentlich nur schwer etwas vorbringen kann. Doch galten diese Nachforschungen den Anhängern Pinochets als Teil einer internationalen marxistischen Kampagne zur Verleumdung des Landes. Unter dem Schutz vor allem der Katholischen Kirche bildeten sich im Laufe der Zeit Selbsthilfegruppen. Diese Entwicklung beschreiben die Sozialwissenschaftler Patrick Guillaudat und Pierre Mouterde in ihrer Arbeit "Los Movimientos Sociales En Chile 1973-1993" (Die sozialen Bewegungen in Chile 1973-1993) so: "Es war ein Phänomen das sich damals in praktisch ganz Lateinamerika entwickelte: Die Rolle der oppositionellen Vorhut spielte eine kleine Gruppe von Frauen, die sich plötzlich auf einem Vorgeschobenen Posten im Kampf gegen die Diktatur befanden. (...) Mit einem erstaunlichen Mut der Verzweiflung waren sie es, die zum ersten Mal die Mauer des Schweigens und des Terrors aufbrachen, in Chile wie an anderen Orten."

Am 14. Juni 1977 kommt es zum öffentlichen Protest gegen die Militärregierung. Der Zusammenschluss von Familienangehörigen von Verhafteten und Verschwundenen organisierte im Gebäude der CEPAL (UN-Wirtschaftskommission für Lateinamerika) einen Hungerstreik. 26 Frauen unterstreichen damit ihre Forderung, dass die Regierung Auskunft über das Schicksal ihrer Angehörigen geben muss. Dies war der Auslöser für ähnliche Aktionen in anderen Teilen des Landes. Die Bewegung wächst und ein Jahr später beteiligen sich an einem weiteren Hungerstreik schon über 100 Personen. Die schon erwähnten Sozialwissenschaftler fassen zusammen: "Zum ersten Mal im Chile der Diktatur erwachte eine oppositionelle öffentliche Bewegung zu neuem Leben, tatsächlich eine defensive Bewegung, aber sie überwand den engen Kreis der politischen Aktivisten und war angeregt, eine neue Erscheinung, fast ausschließlich durch Frauen."

In den folgenden Jahren bilden sich als Folge der sozialen Probleme in den ärmeren Stadtvierteln weitere Bürgerinitiativen. Am bekanntesten sind die olla común (gemeinsamer Kochtopf) genannten Gruppen. Dabei handelt es sich um selbst organisierte Volksküchen. Auch sie wirken zumeist im Umfeld der Kirchen und werden ebenfalls hauptsächlich von Frauen getragen.


Die Einführung der neuen Verfassung

In diesem Umfeld des zaghaften Erwachens des sozialen Lebens beschließt Pinochet 1980 der neuen Verfassung mittels einer Volksabstimmung Legitimität zu verleihen. Eine öffentliche Debatte über das Für und Wider einzelner Bestimmungen findet natürlich nicht statt. Die Parteien der ehemaligen Unidad Popular haben keine Möglichkeit sich zu äußern. Im Untergrund ruft die Kommunistische Partei dazu auf mit Nein zu stimmen. Den Christdemokraten als Partei geht es ähnlich. Aber ihr ehemaliger Staatspräsident, Eduardo Frei Montalva, er saß nicht im Staatsrat, erhielt die Erlaubnis eine Versammlung abzuhalten. Dort sprach er sich ebenfalls für das Nein aus. Seine Rede wurde live von einigen wenigen Radiostationen verbreitet. Dies war die einzige öffentliche Ablehnung des zur Abstimmung gestellten Textes. Als Ergebnis wurden 67% Zustimmung und 30% Ablehnung bekannt gegeben.

Jeder mag selbst entscheiden ob unter solchen Umständen ein Grundgesetz demokratische Legitimität erhalten kann. Man sollte dabei bedenken wie die hiesige Berichterstattung ausgesehen hätte, wenn die gegenwärtigen Präsidenten Boliviens und Venezuelas bei der Einführung ihrer Verfassungen ähnlich vorgegangen wären.

Es gibt aber weitere Gründe um die Rechtmäßigkeit der Abstimmung zurückzuweisen. Nicht nur die Propaganda, auch die Organisation der Abstimmung lag fast ausschließlich in den Händen von Anhängern des Regimes. Dies erlaubte Manipulationen und dafür finden sich auch einige Anhaltspunkte. So berichten die drei bürgerlichen Journalisten unter anderem: "Später weisen Experten der Opposition nach, dass in mindestens 9 Provinzen mehr als 100% der Bevölkerung abgestimmt haben."


Die Ziele der neuen Verfassung

Die mit dieser Farce in Kraft gesetzte Verfassung wird erheblichen Einfluss auf den weiteren Fortgang der Ereignisse nehmen. Daher werfen wir nun einen kurzen Blick auf die entscheidenden Punkte.

Die neue Konstitution besteht aus zwei Teilen, dem eigentlichen Grundgesetz und zeitlich befristeten Übergangsbestimmungen. Letztere regeln das schrittweise Inkraftsetzen der Verfassungsartikel, die so etwas wie die demokratische Mitwirkung der Bevölkerung und damit den Rückzug der Militärs betreffen. Darin ist festgelegt, dass mit der Annahme der neuen Verfassung Pinochet automatisch auch als Präsident gewählt ist. Seine Amtszeit dauert bis 1989. Mit einer weiteren Volksabstimmung soll 1988 ermittelt werden ob sie sich um 8 Jahre verlängert, also bis 1997. Für den Fall einer Niederlage Pinochets in diesem Wahlgang sehen die Bestimmungen für das folgende Jahr Präsidentschaftswahlen vor. Dafür gilt dann der von der Diktatur geschaffene gesetzliche Rahmen.

Hier kommt die eigentliche Verfassung ins Spiel. Da findet sich z. B. in § 8 eine wichtige Vorschrift. "Jede Handlung von Personen oder Gruppen, die bestimmt ist Lehren zu verbreiten, die gegen die Familie gerichtet sind, die die Gewalt verteidigen oder eine Konzeption der Gesellschaft, des Staates oder der juristischen Ordnung von totalitärem Charakter, oder im Klassenkampf gründen, sind verboten. (...) Die Organisationen und Bewegungen oder politische Parteien die wegen ihrer Ziele oder wegen der Aktivitäten ihrer Anhänger zu diesen Zielen neigen, sind verfassungswidrig." Im gleichen Paragraphen wird den davon Betroffenen eine Reihe von Tätigkeiten verboten. Dazu gehört die Ausübung öffentlicher Ämter, die Arbeit im Erziehungswesen oder im Bereich der Massenmedien. Ebenso sind ihnen ehrenamtliche Funktionen in Nachbarschaftsvereinen, Berufsverbänden, Gewerkschaften und Studentenvereinigungen untersagt.

Hier zeigt sich deutlich das mit der Verfassung von 1980 angestrebte Ziel. Die sozialistische und kommunistische Linke soll aus dem gesellschaftlichen Leben verbannt werden. Der § 8 ist zwar beim Rückzug der Militärs verändert worden, nicht aber die Ausrichtung der Konstitution. Das zeigt sich an einer Reihe weiterer Bestimmungen. So z. B. in § 19 Punkt 15 wo festgelegt wurde, dass die Mitgliedsverzeichnisse der Parteien öffentlich sind. Auch diese Vorschrift hat man entschärft. Heute müssen die Mitgliederlisten nur der staatlichen Wahlbehörde vorgelegt werden. Dies ist allerdings schlimm genug und zielt weiterhin gegen die Linke, da sie damit einer breiteren Basis beraubt wird. Es fällt Menschen schon schwer genug einer in der Gesellschaft verpönten Partei beizutreten. Wie viel schwieriger wird es für sie, wenn sie wissen, dass ihre Mitgliedschaft den Behörden bekannt gemacht werden muss. Im Falle Chiles Behörden, die auf der Basis solcher Informationen, in der Vergangenheit Menschen getötet haben.

Diese detaillierten Vorgaben sind eine weitere Charakteristik der Verfassung. Mit ihr werden Dinge geregelt, die sich in anderen Ländern in Ausführungsgesetzen finden. Damit soll verhindert werden dass ein zukünftig demokratisch gewähltes Parlament mit einfacher Mehrheit Änderungen vornehmen kann. Für Verfassungsänderungen sind in beiden Kammern jeweils 3/5 (§ 116) der Mandatsträger zu gewinnen. Diese Mehrheit ist schwieriger zu erreichen. Erst recht in einem politischen System in dem ein Teil der Senatoren nicht durch Wahlen bestimmt werden.

Die neue Konstitution beinhaltet zwar Regeln für die Tätigkeit von Parteien, aber das heißt noch lange nicht, dass diese jetzt auch legal tätig werden können, bzw. wollen. Einerseits existieren die für ihre Zulassung vorgesehenen Institutionen noch nicht. Andererseits sind die Perspektiven der zu diesem Zeitpunkt in der Illegalität tätigen Organisationen höchst unterschiedlich. Die Christdemokraten hätten die Möglichkeit im Rahmen dieser Verfassung tätig zu werden. Doch sie lehnen die Konstitution weiterhin ab. Daher möchten sie sie nicht indirekt, durch die Inanspruchnahme von dort niedergelegten Rechten, anerkennen. Für die Kommunisten stellt sich diese Frage nicht. Sie bleiben aufgrund des § 8 verboten.

Wie nicht anders zu erwarten bereiten sich jetzt die Anhänger Pinochets auf die Zukunft vor. Der uns schon bekannte Jaime Guzmán gründet die Unión Demócrata Independiente (Unabhängige Demokratische Union - UDI). In gewissem Sinne handelt es sich dabei um eine moderne Faschistische Partei. Sie ist so aufgeklärt, dass sie auf die diktatorische Ausübung der Herrschaft verzichtet, solange die Interessen der Bourgeoisie gewahrt bleiben. An der Ausgestaltung dieses, von ihren Erschaffern "geschützte Demokratie" genannten Systems, will sie sich aktiv beteiligen.

Die Bezeichnung "geschützte Demokratie" trifft die Sache recht gut. Die starke und in einigen Bereichen fast unabhängige Stellung der Streitkräfte gegenüber den demokratischen Institutionen ist ein starker Schutz dieses Systems. Sie ist die Garantie, dass sich die Gesellschaft nur schwer von den Zielen der Verfassung, dem Schutz des kapitalistischen Eigentums, emanzipieren kann. Sollte das doch wider Erwarten gelingen, steht das Militär Gewehr bei Fuß, dies in bekannter Art und Weise zu unterbinden. Auch dafür sorgt die Verfassung. Sie gibt einer gewählten Regierung fast keine Mittel an die Hand die Armee zu demokratisieren.


Die Wirtschaftskrise

Für das Regime lief damals alles bestens. Nur die 1979 einsetzende Anschlagswelle gegen einige seiner Funktionäre störte ein wenig. Hier machte sich die "Operation Rückkehr" des Movimiento de la Izquierda Revolucionaria (Bewegung der Revolutionären Linken - MIR) bemerkbar. Doch die wenigen Toten waren, global gesehen, bedeutungslos. Die Junta, die anfangs nur kurze Zeit an der Regierung bleiben wollte, hatte Gefallen an der Macht gefunden. Mit der neuen Verfassung sah sie ihre Stellung bis 1997 gesichert. Doch da machte ihr, für Marxisten wenig überraschend, die Ökonomie einen Strich durch die Rechnung. Das muss für sie bitter gewesen sein, waren die Ausmaße der Krise doch eine direkte Folge ihrer neoliberalen Politik.

Jede Wirtschaftspolitik greift in das freie Spiel der Kräfte ein. Dadurch werden einige Bereiche bevorzugt, während andere das Nachsehen haben.

Die Militärregierung begünstigte das Handels- und Finanzkapital. Durch die Flexibilisierung der Finanzmärkte hatten sowohl die großen Finanzgruppen, als auch die Konsumenten einen einfacheren Zugang zu Krediten. Durch die Senkung der Zölle konnten die Importeure Konsumgüter billiger auf den nationalen Markt bringen. Als Folge dieser Maßnahmen stiegen sowohl die interne wie die externe Verschuldung. Gleichzeitig spezialisierte sich die chilenische Bourgeoisie auf die Produktion von Exportgütern wie Früchte, Zellulose oder mineralische Rohstoffe. Die auf dieser Basis neu entstandenen Unternehmensgruppen waren überschuldet und widmeten sich mehr der Spekulation als produktiven Tätigkeiten. Dies führte 1981 zu einer Finanzkrise der sich eine Wirtschaftskrise anschloss. Auslöser war das Sinken der Weltmarktpreise für Rohstoffe. Als erstes traf es einen traditionsreichen Zuckerproduzenten. Er hatte auf steigende Preise gesetzt und musste jetzt Konkurs anmelden. Damit riss er die Finanzgruppe, deren Teil er war, mit in den Abgrund. Bei dieser Insolvenz spielte auch die 1979 durchgeführte Senkung des Einfuhrzolls für Zucker eine Rolle, wodurch das Unternehmen seinen geschützten Heimatmarkt verlor.

Hier kommen zwei weitere wirtschaftspolitische Maßnahmen ins Spiel. Um die Inflation zu begrenzen hatte man eine Parität von 39 Chilenischen Pesos zu einem US-Dollar festgelegt. Gleichzeitig waren die Löhne und Gehälter mit der Preissteigerung verknüpft. Damit befand sich das produzierende Gewerbe in einer Zwickmühle. Es gab zwei Möglichkeiten um den Unternehmen die Konkurrenzfähigkeit zurückzugeben. Man hätte entweder den Peso abwerten oder die Einkommen der Beschäftigten weiter senken müssen. Beides wollte die Regierung nicht. Als sie sich 1982 zur Abwertung des Peso gezwungen sah, steckte Chile schon in einer massiven Wirtschaftskrise. In diesem Jahr ging das Bruttoinlandsprodukt um 14,1% zurück.

Diese Entwicklung hatte massive Auswirkungen auf die Lebensbedingungen der Menschen. In Chile werden Kredite nicht in der Landeswährung aufgenommen sondern in Unidades de Fomento (Finanzeinheiten - UF). Der Kurs der UF wird täglich, anhand der Inflationsrate, neu bestimmt. Durch die Abwertung des Peso stiegen die Preise der importierten Güter, und damit die Inflationsrate. Die Einkommen, die ebenfalls an die Inflationsrate gekoppelt waren, wurden aber nur in wesentlich größeren Zeitabständen angepasst. So stieg die Schuldenlast im Verhältnis zum Einkommen und damit die für Zinsen und Tilgung aufzuwendende Summe. Die Schuldner verarmten und ihr Lebensstandard sank.

Verschärft wurde die Situation durch eine zunehmende Arbeitslosigkeit. Sie war in den Jahren 1980 und 1981 mit 12% schon recht hoch. Doch erreichte sie 1982 fast 24% (Zahlen der Universidad de Chile) und lag damit höher, als während des ökonomischen Schockprogramms in den ersten Jahren des Regimes. Dieser Vergleich gibt wahrscheinlich nicht annähernd die Dramatik der Lage wieder. So gehen andere Quellen für diese Zeit von einer offiziellen Arbeitslosenrate von über 30% aus.


Das Wiederaufleben der Gewerkschaftsbewegung

Die ökonomische Krise provozierte gewerkschaftliche Kämpfe. Hier stutzt man.

Wie können in einem Land mit einer so grausamen Repression plötzlich Gewerkschaften aktiv werden? Zur Beantwortung dieser Frage müssen wir wieder die Anfänge des Regimes betrachten. Mit einem ihrer ersten Gesetzesdekrete zerschlug die Junta die Gewerkschaftszentrale CUT. Das betraf aber scheinbar nicht alle Mitgliedsorganisationen. So kann man dem Internetauftritt der ANEF (Nationaler Verband der Angestellten des öffentlichen Dienstes) entnehmen, dass ihre Existenz keine Unterbrechung erfuhr. Dies lag vielleicht an ihrem damaligen Vorsitzenden Tucapel Jiménez. Er stand den Militärs nahe und verteidigte auf internationalem Parkett die Regierung Pinochet.

Möglicherweise ist dieser Widerspruch auch auf die Politik der Christdemokraten zurückzuführen. Einerseits war und ist diese Partei in den Gewerkschaften verwurzelt. Sie dominierte einzelne Verbände wie den der Kupferarbeiter. In den Minen El Teniente und Chuquicamata streikten sie gegen die Regierung Allende. Damit beteiligten sie sich an der Zerrüttung der wirtschaftlichen Basis des Landes und bereiteten den Boden für das Eingreifen der Militärs, das von der Christdemokratischen Partei zuletzt sogar offen gefordert wurde. Die Generäle hatten also anfangs keinen Grund diese Gewerkschaften als Gegner zu betrachten und ließen sie vielleicht fortbestehen. Das ist den damals bevorzugten Verbänden heute peinlich und sie breiten den Mantel des Vergessens über diese Zeit. Zumindest kann man feststellen, dass nach dem Putsch aufgrund der harten Repression jede gewerkschaftliche Tätigkeit zum Erliegen kam.

Auch auf dem Feld "Arbeitnehmerorganisationen" agierte die Junta ziemlich geschickt. Ihr war offensichtlich bewusst, dass sie sich in einer Klassengesellschaft naturwüchsig bilden. Dieses gesellschaftliche Bedürfnis wollte man mit korporatistischen Organisationen kanalisieren. Mit Gewerkschaftsführern wie dem schon erwähnten Tucapel Jiménez gründete man die Central Nacional de Trabajadores (Nationale Zentrale der Arbeiter - CNT). Doch das Projekt scheiterte, da ihm nicht nur die Traditionen der chilenischen Arbeiterklasse entgegen standen. Es fehlten außerdem die ökonomischen Mittel zur Ruhigstellung der Beschäftigten.

Auf der anderen Seite war es dem Militär wohl auch nicht möglich mit der Zerschlagung der als feindlich eingeschätzten gewerkschaftlichen Strukturen auch die in den Betrieben verbliebenen informellen Zusammenhänge auszumerzen. Irgendwann zwischen 1975 und 1977 gründen 17 Organisationen die Coordinadora Nacional Sindical (Nationale Gewerkschaftskoordination - CNS). Hinsichtlich des exakten Gründungsjahres findet man unterschiedliche Angaben. Das zeigt vielleicht recht gut, dass sich die Gewerkschaften nur langsam wieder aus der Deckung trauten. Bezeichnend für die innenpolitische Lage ist, dass sich auch die CNS nur im Schatten der Katholischen Kirche bilden konnte.

Mit der Gründung dieser ersten staatsfernen Gewerkschaftskoordination begann eine wechselvolle Geschichte. Der Staat reagierte auf diese neue Gewerkschaftsbewegung mit der gesamten Palette seiner Möglichkeiten. Dabei schwankte er zwischen den Extremen. Sie reichten von Kontakten mit Gewerkschaftsführern bis zu ihrer Ermordung. So verschwindet im Juli 1976 der Kommunist Juan Gianelli, ein Gründungsmitglied der CNS. Allerdings geht aus der Literatur über diese Jahre oftmals nicht klar hervor, ob es sich um Vertreter unabhängiger Gewerkschaften handelte, wenn von Kontakten der Militärs mit Gewerkschaftern die Rede ist.

Auch außerhalb des Schutzschirmes der Katholischen Kirche kam es zur Bildung von kleineren gewerkschaftlichen Zusammenschlüssen. So gründete sich in Santiago das Comité Coordinador de Trabajadores (Koordinationskomitee der Arbeiter - CCT). Das widerspiegelt in gewisser Weise die Spaltung der politischen Opposition gegen die Diktatur. Im gewerkschaftlichen Bereich kann sie später überwunden werden. Dennoch führen die kirchliche Patenschaft bei der Gründung und die gezielte Repression gegen die in ihr wirkenden Linken dazu, dass die neue Gewerkschaftsbewegung christdemokratisch geprägt ist.

Begünstigt wurde dies von der radikalen Linken mit ihrer Orientierung auf den bewaffneten Kampf. Das betraf hauptsächlich den MIR und wird heute von damals Aktiven kritisch gesehen. In einem Interview mit Gaby Weber äußert sich ein "Enrique" so: "Was die Ausbildung der gewerkschaftlichen Kader und der Anführer der sozialen Bewegungen anging, ließen wir der Christdemokratie bzw. der katholischen Kirche den Vortritt."

Bei der Erkämpfung von gewerkschaftlichen Rechten spielte auch der Druck aus dem Ausland eine wichtige Rolle. So hatte der Antrag des Nordamerikanischen Gewerkschaftsdachverbandes AFL-CIO bei einem interamerikanischen Gewerkschaftstreffen Erfolg, einen Hafenboykott gegen Chile auszurufen. Einen Boykott der aus Chile kommenden Schiffe, der insbesondere die Ausfuhr von Früchten verhindert hätte, fürchteten die Militärs. Und so sah sich die Regierung gezwungen geheime Verhandlungen mit dem AFL-CIO aufzunehmen.

Die Junta musste erkennen, dass sie ohne Zugeständnisse den Boykott nicht vom Tisch bekommt. Daher verfasste der Arbeitsminister José Piñera, der Bruder des gegenwärtigen Präsidenten, zwei Gesetzesdekrete, die den Arbeitern erste gewerkschaftliche Rechte zubilligten. Eine Reihe weiterer Dekrete folgte, die den Rahmen für das Wirken von Gewerkschaften schufen. Schließlich wurde so ein Arbeitsrecht auf der Basis neoliberaler Prinzipien geschaffen. Es beinhaltet die Beschränkung einer Gewerkschaft auf nur einen Betrieb und das Verbot von Dachverbänden.

Auf der Basis dieser Gesetze wurden 1981 einige Führer der CNS zu Gefängnisstrafen verurteilt und des Landes verwiesen. Im folgenden Jahr wurde der uns schon bekannte Tucapel Jiménez von einer Todesschwadron ermordet. Er war zwischenzeitlich in Opposition zu Pinochet gegangen und Mitglied der CNS.

Das ist die politische Lage bei Ausbruch der Wirtschaftskrise. Die Gewerkschaften versuchen mit betrieblichen Streiks Gehaltserhöhungen durchzusetzen. Ebenso finden Proteste zur Verteidigung ihrer Arbeitsplätze statt um die Regierung zum Eingreifen zu bewegen. Diese hatte mit Hilfsaktionen einige Finanzgruppen gerettet und ebensolches fordern nun die Arbeitnehmer für ihre Arbeitsplätze, doch sie stoßen damit meist auf taube Ohren.

In dieser Situation hatte der Aufruf zu einem, selbstverständlich verbotenen, Generalstreik die Wirkung des Funkens der ein Feuer auslöst. Er kam von der Confederación de Trabajadores del Cobre (Bund der Kupferarbeiter - CTC). Da der politische und militärische Druck - die Armee hatte schon die wichtigsten Minen des Landes umstellt - zu groß wurde, sah er sich gezwungen zurückzuweichen. Doch zusammen mit der Absage des Streiks gab der Vorsitzende, Rodolfo Seguel, eine neue Losung aus. Er forderte die Menschen zu einem nationalen Protesttag auf. Der zentrale Punkt des Aufrufes lautete, dass man ab 20 Uhr das Licht abschalten und mit dem Scheppern von Kochtöpfen beginnen soll.

Am 11. Mai 1983 warteten alle gespannt darauf, was passieren wird. Der Tag unterschied sich in Santiago nicht wesentlich von anderen. In den Kupferminen war zwar die eine oder andere Schicht ausgefallen aber sonst blieb es weitgehend ruhig. Doch um 20 Uhr begann das Schlagen der Kochtöpfe. Man hörte den Lärm nicht nur in den ärmeren Vierteln. Die Proteste erreichten sogar Providencia und Las Condes, Wohngegenden der Bessergestellten. Die Polizei war dort wie gelähmt. In den Armenvierteln gingen die Menschen sogar auf die Straße. Laut den schon erwähnten Sozialwissenschaftlern machten dabei die Frauen den Anfang. Hier zeigte die Arbeit der Selbsthilfegruppen Wirkung. Doch bei den Armen griff die Polizei ein. In der Nacht kam es zu zwei Toten und 600 Verhafteten.

Es fehlt der Platz ausführlich zu beschreiben, was dieser Tag, bzw. diese Nacht, emotional für die Menschen in Chile bedeutete. Die politische Wertung ist da einfacher. Zum ersten Mal seit dem Putsch stellte sich eine Massenbewegung öffentlich gegen die Militärregierung. Doch leider ist der Erfolg dieses Tages nicht auf eine erstarkte Linke zurückzuführen. Lassen wir das die beiden Sozialwissenschaftler erklären: "Zeichen der Zeit, die Verbände welche Basis des Staatsstreichs waren begannen offen zur Opposition zu wechseln."

Damit hatte sich ein Epochenwechsel vollzogen. Dem ersten Protesttag folgten weitere. Sie führten zu einem zwischen der Rechten und Vertretern der Mitte ausgehandelten Übergang. Dieser Prozess und das Agieren der Linken in ihm wird in der nächsten Ausgabe behandelt.


Anmerkung der Schattenblick-Redaktion:
Der erste Teil ist zu finden unter:
www.schattenblick.de -> Infopool -> Medien -> Alternativ-Presse -> ARBEITERSTIMME/212: Die Erschaffung einer rechten Dominanz in Chile - Teil 1


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Quelle:
Arbeiterstimme, Nr. 168, Sommer 2010, S. 28-33
Verleger: Thomas Gradl, Postfach 910307, 90261 Nürnberg
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Internet: www.arbeiterstimme.org

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veröffentlicht im Schattenblick zum 5. August 2010