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ANALYSE & KRITIK/324: Loïc Wacquant über Prekarität, Rassismus und Gefängnis in den USA


ak - analyse & kritik - Ausgabe 542, 18.09.2009

For somethin' that he never done...
Loïc Wacquant über Prekarität, Rassismus und Gefängnis in den USA

Interview von Jenny Weyel


Die Deregulierung der Produktion seit den 1970er Jahren hat auch in den USA zur Verödung der ehemaligen Industriezonen geführt. Zugleich schnellte die Zahl der Gefängnishäftlinge in die Höhe. In den Vereinigten Staaten sitzen heute etwa sieben Mal so viele Menschen hinter Gittern wie im europäischen Durchschnitt. Die meisten von ihnen sind Schwarze. Loïc Wacquant forscht seit Jahren über die Zusammenhänge zwischen dem Wandel der Arbeitswelt, der insbesondere große Teile der "schwarzen Arbeiterklasse" überflüssig gemacht hat, und dem Ausbau des Gefängnissystems. Mit ihm sprach Jenny Weyel über schwarze und weiße AmerikanerInnen hinter Gittern, die Rolle der Gefängnisse bei der Regulierung der Armut und die Folgen der Krise für dieses System der Armutskontrolle.


ak: Seit Mitte der 1970er Jahre ist die Inhaftierungsrate in den USA dramatisch angestiegen. Heute befinden sich mehr als zwei Millionen Menschen in amerikanischen Gefängnissen - Tendenz steigend. Überproportional viele Häftlinge in den USA sind Schwarze. Du hast diese Entwicklung als das "Schwarzwerden", der Gefängnisbevölkerung bezeichnet und die These vertreten, Gefängnisse seien ", Rassen'-produzierende Institutionen". Könntest du das genauer erklären?

Loïc Wacquant: Zunächst einmal müssen wir uns darüber klar werden, wie außergewöhnlich diese Entwicklung ist, da die USA noch Mitte der 1970er Jahre eines der weltweit fortschrittlichsten Justizwesen besaß. Der Bundesstaat Kalifornien experimentierte sogar mit Gefangenengewerkschaften und selbstverwalteten Haftanstalten. In jener Zeit - im Jahr 1973 - hatten die Vereinigten Staaten ihre niedrigste Häftlingszahl im gesamten 20. Jahrhundert: etwa 380.000 Gefangene. Seitdem hat sich die Zahl der Häftlinge alle zehn Jahre mehr oder weniger verdoppelt, so dass die Inhaftierungsrate heute fünf Mal so hoch ist wie 1973.

ak: Wie ist diese plötzliche Trendwende zu erklären?

Loïc Wacquant: Die konventionelle Antwort verweist auf die Kriminalität. Sie besagt, dass die USA auf einen Anstieg vor allem von Gewaltverbrechen reagiert habe, indem sie ihre Gefängnisse füllte. Tatsächlich aber stagnierte die Kriminalitätsrate in diesem Zeitraum zuerst und ging dann zurück.

Es ist außerdem bemerkenswert, dass im genannten Zeitraum der Anteil weißer StraftäterInnen nicht zugenommen hat. Wenn also die Gefängnisbevölkerung ein korrektes Abbild der Kriminalität wäre, dann hätte auch die Anzahl Weißer hinter Gittern steigen müssen. Doch das Gegenteil ist geschehen. Vor 50 Jahren lag der Anteil Weißer an den GefängnisinsassInnen bei 70 Prozent, alle anderen zusammen kamen auf 30 Prozent. Heute sind 70 Prozent der Häftlinge schwarz oder hispanisch. Schwarze Männer machen sechs Prozent der Gesamtbevölkerung aus, aber sie stellen 50 Prozent der Häftlinge.

Wir müssen daher die Funktionen des Gefängnisses in den Blick nehmen, die mit Bestrafen und Kontrolle von Kriminalität nichts zu tun haben. Das Gefängnis dient nicht dazu, Verbrechen zu bekämpfen, sondern dazu, die Armen zu regulieren, soziale Unruhen einzudämmen und diejenigen zu verwahren, die durch die neue gesellschaftliche Arbeitsteilung, den technologischen Wandel und die Neuzusammensetzung der Arbeiterklasse überflüssig gemacht worden sind. Darüber hinaus hat das Gefängnis den Nutzen, die Souveränität und Autorität des Staates zur Schau zu stellen.

ak: Du sagtest, die Gefängnisse verwahren die Armen. Wäre es aus volkswirtschaftlicher Sicht nicht sinnvoller, eine höhere Workfare zu zahlen, anstatt die Armen ins Gefängnis zu sperren?

Loïc Wacquant: Ja, wenn man die Gesamtarchitektur dieses Systems der Armutsregulierung betrachtet, ist es durch und durch irrational. Es ist wahnsinnig kostspielig. Das kann 20, 30 oder auch 40 Jahre funktionieren, aber gegenwärtig sehen wir ja, dass dieser Modus der Armutsregulierung an seine Grenzen stößt, schlicht und einfach weil er zu teuer ist.

ak: Und wie wird sich die aktuelle Krise deiner Meinung nach auf die Gefangenenbevölkerung auswirken? Wird der Staat noch die Mittel haben, die Armen weiter zu verwahren?

Loïc Wacquant: Ironischerweise besteht in den USA eine der großen Chancen, die mit dem Zusammenbruch der Aktienmärkte und der Finanzkrise einhergehen, darin, dass die Krise die Regierung zwingt, zu einer aktiveren wirtschaftspolitischen Rolle zurückzukehren. Und je stärker die Regierung sich im wirtschaftspolitischen Feld engagiert und auch ihre Autorität aus einer aktiven Wirtschaftspolitik zieht, desto weniger muss sie das im Bereich der Kriminalitätsbekämpfung, das heißt über ihre bisherige Law-and-order-Politik tun. Die Krise verringert also die Neigung zu einer repressiven Strafverfolgungspolitik - und auch den politischen Nutzen, den man aus einer solchen Politik ziehen kann.

ak: Siehst du irgendwelche Hinweise darauf, dass es durch die Wahl von Barack Obama und des neuen Justizministers Eric Holder zu einem politischen Kurswechsel in Bezug auf den Strafvollzug kommt?

Loïc Wacquant: Die große Chance besteht wie erwähnt darin, dass sich die neue Regierung wegen der Wirtschaftskrise im Bereich der Law-and-order-Politik nicht wirklich profilieren muss. Unter normalen Umständen wäre die neue Regierung vermutlich dazu verdammt, die Politik ihrer Vorgänger fortzusetzen. Ein schwarzer Präsident und ein schwarzer Justizminister können sich schließlich nicht nachsagen lassen, zu lasch mit schwarzen Kriminellen umzugehen. Das ist ein Dilemma der schwarzen Bourgeoisie, das der bedeutende schwarze Soziologe W.E.B. Du Bois schon Anfang des 20. Jahrhunderts beschrieben hat: Um von Weißen respektiert zu werden, muss die schwarze Bourgeoisie ihre Distanz zur schwarzen Unterklasse demonstrieren. Insbesondere gegenüber StraftäterInnen muss sie Härte zeigen. Andernfalls würde sie als Verbündete der schwarzen Kriminellen betrachtet werden und die Verknüpfung zwischen Schwarzsein und Kriminalität würde bestätigt werden. Ein schwarzer Präsident ist also paradoxerweise in einer sehr schwachen Position, wenn er eine mildere Strafgesetzgebung einführen will.

Loïc Wacquant: Das führt uns noch einmal zu einer anderen Frage zurück, die du gestellt hast, und zwar die Frage nach der Verbindung zwischen "Rasse" und Inhaftierung. Die USA setzen den Strafvollzug wie beschrieben verstärkt dazu ein, die Armen zu regulieren. Sie benutzen ihn aber auch, um die Überreste des schwarzen Gettos zu kontrollieren und in Schach zu halten. Historisch diente das schwarze Getto dazu, die schwarze Bevölkerung zu kontrollieren und in Schach zu halten - und zwar alle, egal ob sie reich oder arm waren. Doch in den 1960er Jahren brach das Getto als Instrument der Kontrolle zusammen.

ak: Warum?

Loïc Wacquant: Hauptsächlich aus drei Gründen. Erstens machte die wirtschaftliche Verschiebung hin zu post-industrieller Produktion die - im innerstädtischen Getto konzentrierte - schwarze Arbeiterklasse überflüssig. Ihre Arbeitskraft wurde in den städtischen Fabriken nicht länger benötigt, denn die Fabriken waren in die Vorstädte und in den globalen Süden abgewandert. Die bisherige Funktion des Gettos, die Arbeitskraft von Schwarzen abzupressen, war nun überholt. Zweitens begann die millionenfache Abwanderung Weißer in die Vororte. Damit verlagerte sich auch der politische Mittelpunkt des Landes in die Vororte. Die innerstädtische Bevölkerung wurde damit in politischer Hinsicht überflüssig. Nach 1968 konnten sogar die Demokraten nationale Wahlen gewinnen, ohne in den Innenstädten zu gewinnen. Drittens brachten die sozialen Bewegungen der 1960er Jahre auch die Weigerung hervor, sich weiter im Getto einsperren zu lassen. Für die schwarze Mittelklasse wurde es möglich, dem Getto zu entfliehen und sich außerhalb dessen anzusiedeln.

ak: Und was passierte mit dem städtischen Getto?

Loïc Wacquant: Aus den Überresten des klassischen Gettos wurde das "Hypergetto", dessen Bevölkerung in zweifacher Hinsicht diskriminiert wird - auf Grund ihrer "Rasse" und ihrer Klasse. Ihr haftet das Stigma ihrer "Rasse", das Stigma der Armut und das Stigma der Sittenlosigkeit an. Ihr wird sexuelle Zügellosigkeit und eine mangelnde Arbeitsmoral zugeschrieben; dieser Teil der Bevölkerung, so eine verbreitete Sichtweise, braucht moralische Anleitung durch den Staat. Dies geschieht einerseits durch die staatlichen Workfare-Programme. Die BezieherInnen von Sozialleistungen werden zur Arbeit gezwungen - und dazu, unsichere und schlecht bezahlte Beschäftigungsverhältnisse zu akzeptieren. Andererseits hat das zu dem geführt, was ich "Prisonfare" nenne: zum Ausbau der Polizei, der Gerichte, der Gefängnisse, der Bewährungsstrafen, der Vorstrafenregister usw. als Mittel zur Kontrolle des schwarzen - vor allem männlichen - Subproletariats. Das Gefängnissystem wurde also verknüpft mit den Resten des schwarzen Gettos, das heißt mit dem Hypergetto. Die neue Verbindung aus Hypergetto und Gefängnis dient nicht länger dazu, Wert abzuschöpfen, sondern dazu, unerwünschte Bevölkerungsteile, die als gefährlich, abweichend und heruntergekommen betrachtet werden, auszugrenzen.

Zum anderen sind - gewissermaßen als Satelliten des klassischen Gettos - auch räumlich abgetrennte Wohngegenden der schwarzen Mittelschicht entstanden. Es ist bemerkenswert, dass sich die Wahrscheinlichkeit, ins Gefängnis zu kommen, für junge schwarze Männer ohne High School-Abschluss in den letzten 20 Jahren verfünffacht hat, wohingegen sie sich für schwarze Männer mit College-Abschluss halbierte. Das bedeutet, dass sich die neue Repressivität des Staates nicht gegen Schwarze insgesamt richtete, sondern nur gegen die schwarze Unterschicht.

ak: In welchem Zusammenhang steht das zu dem, was du über das Prekariat gesagt hast? Macht es Sinn zwischen den aus ökonomischer Sicht "Überflüssigen" und denjenigen prekären Arbeitskräften zu unterscheiden, die noch benötigt werden?

Loïc Wacquant: Ich denke ja. Und die Institution, die die Grenze zieht zwischen denjenigen, die noch "gerettet" und in den Arbeitsmarkt - wenn auch in einen prekarisierten Arbeitsmarkt - wieder eingegliedert werden können, und jenen, die nicht länger verwertbar sind, die nur noch zwischen Hypergetto und Gefängnis hin und her pendeln, ohne je wieder in den Arbeitsmarkt einzutreten, ist der strafende Staat. Für all jene, die den Workfare-Maßnahmen unterworfen sind, besteht zumindest die Möglichkeit, dass sie wieder in den Arbeitsmarkt integriert werden können.

ak: Und die Kriminalisierung soll verhindern, dass der Rest des Prekariats sich mit den Überflüssigen solidarisiert?

Loïc Wacquant: Genau. Es geht um zwei Dinge: Wenn der Strafvollzug ausgebaut wird, dann setzt das zunächst einmal diejenigen unter Druck, die sich gegen Niedriglohn-Jobs sträuben. Was sind die Möglichkeiten, sich gegen Billigjobs zu wehren? Eine Möglichkeit ist, in die Schattenwirtschaft auszuweichen. Doch wenn die Kosten für ein Ausweichen in die Illegalität drastisch erhöht werden, indem sich beispielsweise die Wahrscheinlichkeit, dass die Polizei dich erwischt, wenn du Drogen verkaufst, auf 50 oder 80 Prozent erhöht und die Wahrscheinlichkeit, dafür drei Jahre ins Gefängnis zu wandern, auf 100 Prozent steigt, dann werden sich viele Leute sagen, da mach ich doch lieber den miesen Job. Das Strafsystem hat also den Zweck, den Druck zu erhöhen. Es soll diejenigen, die sich prekarisierten Arbeitsbedingungen widersetzen, dazu zwingen, diese Bedingungen zu akzeptieren. Aber es stigmatisiert zugleich auch diejenigen, die Bekanntschaft mit dem Gefängnis gemacht haben, und trennt sie von denen, die nicht im Gefängnis waren.


Übersetzung: Jenny Weyel


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veröffentlicht im Schattenblick zum 24. September 2009