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ANALYSE & KRITIK/309: Die Unbestimmtheit nutzen, dem Ereignis auflauern


ak - analyse & kritik - Ausgabe 540, 19.06.2009

Die Unbestimmtheit nutzen, dem Ereignis auflauern
Für eine Strategie- und Organisationsdebatte in und um die Interventionistische Linke

Von Thomas Seibert


Bereits in den letzten ak-Ausgaben ging es um das Verhältnis von Partei und Bewegung in Zeiten der Krise. (1) Der folgende Artikel fokussiert das Thema auf die Interventionistische Linke (IL). Weil eine Spaltung des "antineoliberalen Blocks" möglich erscheint, hält Thomas Seibert die Zeit für eine Strategie- und Organisationsdebatte der radikalen Linken, speziell der IL gekommen. Dabei müsse es um "die reflexive Bestimmung einer noch ausstehenden Erfindung" gehen.

Wie auch immer man die Krise deutet: Unübersehbar ist, dass sie auch eine Krise des "antineoliberalen Blocks" ist. Darunter verstehe ich die in Seattle und Genua manifest gewordene "Bewegung der Bewegungen", die bestimmte Gewerkschaften und NGOs, mehr oder minder relevante soziale Bewegungen und Initiativen, neuere linksreformistische Parteien (hier DIE LINKE) sowie neuere Formationen der radikalen Linken (hier die IL) in Kommunikation und zu gemeinsamer Aktion gebracht hat.

Ihre erste Probe hat diese Konstellation in Heiligendamm bestanden und sich auch am 28. März und beim NATO-Gipfel in Straßburg bewährt. Allerdings fehlte ihr zumindest bei den Krisen-Demonstrationen im März jeder Glanz, was auch damit zu tun hat, dass in Deutschland von nennenswerter "sozialer Unruhe" bis jetzt nicht gesprochen werden kann. Die absehbare Krise der Bewegung der Bewegungen wirft Fragen auch der weiteren strategischen und organisatorischen Orientierung radikaler Linker auf, die im Folgenden nur grob umrissen werden, weil sie zwar dringend, doch kollektiv zu diskutieren sind.

Ein signifikanter Unterschied der aktuellen Krise zu der von 1929 liegt im Management der Eliten. Das gilt sowohl für die ersten wie für die weitergehenden Gegenmaßnahmen, wie vage und bloß tastend sie auch bleiben. Umgekehrt fällt das Fehlen einer linken, einer transformativen, gar revolutionären Alternative auf: das Fehlen eines Versprechens. Wenn es bisher zu keiner nennenswerten sozialen Unruhe kam, liegt das auch daran.


Green New Deal, aber rot-rot-grün

Von rechts her (den linken Liberalismus eingeschlossen) sieht das etwas anders aus. Der Unterschied trägt den Namen Green New Deal und verfügt schon über einen symbolischen Repräsentanten: Barack Obama. Das wirkt auch im antineoliberalen Block und schlägt sich in dessen moderater Hälfte in strategischen Spekulationen nieder. Dabei verkennt niemand, dass der Deal ein Herrschaftsprojekt ist: der Versuch, den fordistischen Klassenkompromiss in einer Art "Multitudenkompromiss" auf globaler (imperialer) Ebene zu wiederholen. Doch sitzt den einen die Dringlichkeit und kurze Frist der ökologischen Krise im Nacken. Die anderen sehen Chancen einer postneoliberalen Wirtschaftsordnung und wollen dabei die Stichwortgeber für Öffnungen nach links sein. An beiden Kalkülen ist was dran: Das zu leugnen, wäre bloßer Moralismus. Doch sind da StrategInnen am Werk, denen die Unkosten der Sache gerechtfertigt erscheinen. Punkt 1: Das kann und sollte man anders sehen.

Selbstverständlich ist das alles spekulativ und kann schnell vorbei sein, wenn die Krise zum großen Kladderadatsch wird. Doch reicht es, um die Leichtigkeit des Seins im antineoliberalen Block aufzukündigen: was sich bald zeigen wird. Denn hierzulande wäre die parteipolitische Voraussetzung eines solchen Deals eine rot-rot-grüne Koalition ab 2013, krisenbedingt vielleicht vorher. Auch wenn aktuell wenig nach einer solchen Wende aussieht, arbeiten Kreise in den Grünen, in der LINKEN, im Umfeld von attac, in NGOs und in den Gewerkschaften genau daran. Problem bis jetzt: In der SPD gibt es dafür keine AnsprechpartnerInnen, weil sie schlicht zu verrottet ist und von Niederlage zu Niederlage taumelt.

Der emsigen Spekulation in rot-rot-grünen Kreisen korrespondiert eine durchroutinierte Einfallslosigkeit in bewegungsorientierten Kreisen. Auf einer Sitzung des attac-Rats, ich nenne nur dieses Beispiel, gehörten zur Liste der Aktivitäten "Wahlprüfsteine". Alles andere war auch nicht verführerischer. Natürlich muss, wer auf soziale Unruhe setzt, bei allem mit mischen, was in diese Richtung weist. Doch sollte man das Mitmachen-Müssen kräfteschonend angehen; sollte gleichzeitig, angesichts der rot-rot-grünen Gedankenspiele, gerade dazu deutlich auf Distanz gehen. Selbst um den Preis, dass der antineoliberale Block dann auch von links gestört wird. Das muss nicht direkt auf Spaltung zielen: eher auf die Klärung der Frage, ob und wie eine solche vermieden werden kann. In der eingesparten Zeit können neue und bislang zurückgestellte oder übersprungene Fragen angegangen werden. Eine Frage, die bald zu klären wäre: gesetzt, die Spaltung ist unvermeidlich, wie spaltet man gut und produktiv, was bisher der eigene strategische Horizont war?

Linker Radikalismus, Bestandsaufnahme I: Der Stand der Dinge in der IL wurde zuletzt am 28. März und in Straßburg erprobt, und das offensichtlich zu weitgehender Zufriedenheit, auch wenn ernsthaft Abstimmungsschwierigkeiten zu diskutieren sind. Damit ist allerdings die Gefahr benannt, die der IL durch sich selbst bereitet wird. Die liegt darin, sich auf das gar nicht zu unterschätzende Schon-Erreichte zu beschränken und die IL "bloß" als bundesweite Mobilisierungskoordination lokaler linksradikaler Gruppen, überlokaler Projekte und einer Reihe von Einzelpersonen zu verstehen.

Solche Bescheidenheit lässt ungenutzt, was den Möglichkeitsspielraum der ersten relevanten bundesweiten Organisierung radikaler Linker seit Jahrzehnten ausmacht. Zu dem gehört zwar einerseits und konstitutiv die Bezogenheit auf andere linke oder tendenziell linke Akteure, also die nicht-sektiererische Zugehörigkeit zur Bewegung der Bewegungen. Die bewährte sich, um das ausdrücklich festzuhalten, im pragmatischen Umgang mit der Nominierung Oskar Lafontaines zum Redner in Frankfurt. Zu dem gehört aber andererseits, was die IL noch zu leisten hätte: die Ausbildung eines antikapitalistischen Pols in diesem Block, nötigenfalls auch dessen eigenständige Formierung.


Bestandsaufnahme, was uns angeht, in aller Kürze

Für eine Strategie- und Organisationsdebatte ergibt sich damit eine erste zu diskutierende Frage: Was ist eigentlich eine linksradikale Organisierung, die sich einerseits nicht als Konkurrenz zur LINKEN, zu den Gewerkschaften, zu den sozialen Bewegungen, Verbänden und Initiativen, sich andererseits aber auch nicht als linkes Vehikel insbesondere des Parteibildungsprozesses versteht, weil sie eben nicht glaubt, dass die Partei das zuletzt doch wichtigste Medium der Transformation der Gesellschaft ist? Es handelt sich hier nicht um eine taktische, sondern um eine grundsätzliche, d.h. strategisch-programmatische Positionsbestimmung.

Gemäß dem eben genannten Einerseits-Andererseits geht es hier um die reflexive Bestimmung einer noch ausstehenden Erfindung, weil es eine solche Organisierung historisch noch nicht gegeben hat. Nicht gerade wenig, was da ansteht.

Bestandsaufnahme II: Natürlich werden damit noch grundsätzlichere Fragen aufgerufen, zuletzt die nach der Bedeutung des Begriffs wie der Sache selbst des linken Radikalismus. Auch die haben sich historisch bekanntlich gewandelt, wurden zumeist jedoch so verstanden, dass damit ein eigenes Projekt der Gesellschaftstransformation gemeint war, neben dem der Sozialdemokratie und neben dem des Kommunismus (sofern Linksradikale nicht beanspruchten, die eigentlichen KommunistInnen zu sein).

Die IL-Arbeitskonferenz "Die K-Frage stellen" ist das von der Idee her anders angegangen, hat einen pluralen Linksradikalismus anvisiert, der selbst wieder in einer breiteren pluralen Linken verankert wäre. Doch blieb die Idee selbst leidlich unklar, auch von unserer Seite.

Problematisch ist auch die historische Periodisierung, auf die wir uns oft berufen. Nach der stehen wir in einer Folge, die von der Alten Sozialen (ArbeiterInnen-)Bewegung und ihrer Linken über die Neuen Sozialen (Frauen-, Jugend-, Soli-, Öko-, Antira/Antifa-etc.-) Bewegungen und deren Linke zur Bewegung der Bewegungen samt deren Linken führt. Soll unter Krisenbedingungen deutlicher werden, was das heißt, wäre einerseits auf theoretische Diskurse, auch auf Begriffe auszugreifen. Dazu gehört, um ein Beispiel zu geben, der Punkt, den Toni Negri machen will, wenn er festhält, dass der Begriff der Multitude, der unter den Bedingungen einer globalen Bewegung der Bewegungen ja den der Klasse beerben soll, trotzdem ein "Klassenbegriff" sei. (2)


Praktische Fragen und darüber hinaus

Zugleich brechen eher praktische Fragen auf. So hat die linksradikale Tradition schon seit Lenin und Luxemburg ausdrücklich auf den "subjektiven Faktor" gesetzt und auf "Politik der ersten Person". Das Verständnis dessen war historisch radikal verschieden, reicht vom bolschewistischen Kader über die 1970er-Jahre-Militanten bis zum Insgeheim-Doppel der Linksgrünen und der Kreuzberger HausbesetzerInnen. Wir verorten uns da, und das auch wieder in erster Person, gleichermaßen "post": postleninistisch und postautonom - wobei "post" eben nicht "anti" heißt. Wohin führt das jetzt - in erster Person Singular wie Plural, auf der Organisierungsebene?

Das bringt mich auf den Routineaktivismus zurück, mit dem die Linke bisher auf die Krise reagiert hat - auch in analytischer und programmatischer Hinsicht. Letzteres erschöpft sich bisher in der sogenannten Triade (30-Stunden-Woche, 10-Euro-Mindestlohn und Erhöhung des Hartz-IV-Regelsatzes auf 500 Euro). Sicher nicht ganz falsch, doch offensichtlich nichts, mit dem man die Massen hinterm Ofen vorlockt - wobei die Massen hier wohl recht haben. Die IL ist da beteiligt, was sicher unvermeidlich ist, mischt aber auch bei anderem mit. Dass dem so ist, resultiert aus dem Pfund, mit dem wir wuchern: der Netzwerkstruktur unterschiedlicher Gruppen, Projekte und Einzelpersonen in verschiedenen Aktionsfeldern, von der militanten Antifa bis zur individuellen Beteiligung an der reformistischen Zivilgesellschaft.

Gut ist das, weil mehrgleisiges Ausprobieren im gelingenden Fall die Form ist, die das Wachsein, die Offenheit auf das annimmt, was kommen kann: wieder eine Frage der ersten Person. Doch gilt es, daraus mehr zu machen, als jede einzelne Komponente das für sich könnte. Dazu waren wir mit "K-Frage" schon unterwegs, weniger, um mit großen Worten Lücken zu füllen, sondern um über das hinauszukommen, was Hobsbawm die "Dürre des Denkens" nennt, und um das zu finden, das in der besagten Triade nicht zu Wort kommt. So was erfindet man nicht aus dem Stand: Doch gilt es, die Voraussetzungen solcher Erfindungen zu schaffen, Fähigkeit und Bereitschaft dafür zu organisieren. Zum Spähtrupp des Ereignisses werden.


Anmerkungen:
1) Vgl. ak 538, Seite 28 und 29, und ak 539, Seite 34
2) Thomas Atzert/Jost Müller (Hg.): Kritik der Weltordnung. Globalisierung, Imperialismus, Empire. Berlin 200, S.111f.


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ak - analyse & kritik, Ausgabe 540, 19.06.2009
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veröffentlicht im Schattenblick zum 11. Juli 2009