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REZENSION/045: Zum 50. Todestag von Erich Maria Remarque (SB)


Erich Maria Remarque

Schreiben gegen das Vergessen von Krieg und Barbarei
Zum 50. Todestag am 25. September 2020

von Christiane Baumann


Porträt, Remarque in Hut und Mantel mit Zigarette im Mund - Foto: unbekannt - Bundesarchiv, Bild 183-K1018-513 / CC-BY-SA 3.0 / CC BY-SA 3.0 DE (https://creativecommons.org/licenses/by-sa/3.0/de/deed.en), via Wikimedia commons

Remarque 1939 bei der Ankunft in New York
Foto: unbekannt - Bundesarchiv, Bild 183-K1018-513 / CC-BY-SA 3.0 / CC BY-SA 3.0 DE (https://creativecommons.org/licenses/by-sa/3.0/de/deed.en), via Wikimedia commons

Schnelle Autos, schöne Frauen, Alkohol-Exzesse, ein Leben im Hollywood-Glamour - das sind Stichworte zur Biographie des Schriftstellers Erich Maria Remarque (1898-1970), dessen Todestag sich zum fünfzigsten Mal jährt. Seine Memoiren zu schreiben, lehnte Remarque ab. Er wollte nicht sein Leben, sondern allein sein Werk von der Nachwelt beurteilt wissen: "Was ich in meinem Leben gelernt habe, habe ich ohnehin in meinen Büchern verwandt, und der Rest ist privat und ohne Belang für die Arbeit." Das außergewöhnliche Leben Remarques lässt sich in Julie Gilberts Doppel-Biographie Erich Maria Remarque und Paulette Goddard nachlesen, in der auch zum Schaffen manch Aufschlussreiches zu finden ist. Den Beginn dieser überaus produktiven Schriftstellerkarriere markierte ein Welterfolg: Im Westen nichts Neues. Als Remarque 1928 dieses Buch dem Verleger S. Fischer zur Veröffentlichung anbot, lehnte dieser dankend ab: "Kein Mensch interessiert sich für Kriegsromane", hieß es zur Begründung, womit sich der renommierte Verleger um einen der größten Erfolge der Buchgeschichte brachte. Im Westen nichts Neues avancierte zu einem der bedeutendsten Antikriegsbücher der Weltliteratur, das mittlerweile eine Gesamtauflage von mehr als 20 Millionen Exemplaren erreicht hat, in 50 Sprachen übersetzt wurde und noch heute die Bestsellerlisten anführt.

Der literarisierte Bericht, der das Grauen des Ersten Weltkriegs aus der Perspektive eines einfachen Soldaten einfängt, begründete den Weltruhm Remarques. Dieser hatte im August 1918, das Kriegsende vor Augen, im Tagebuch in expressionistischem Pathos vom Wunsch geschrieben, die Jugend Deutschlands "aufzurufen nach dem Kriege zum Kampfe gegen das Morsche und Faule und Oberflächliche in Kunst und Leben [...] Kampf für bessere Lebensbedingungen des Volkes, Bodenreform, vor allem Kampf gegen die drohende Militarisierung der Jugend, gegen den Militarismus in jeder Form seiner Auswüchse. Geschlossenes Auflehnen gegen das Gesetz, wenn es Auswüchse und Bedrückungen begünstigt." (V/253) Das war mehr eine Kampfansage als ein Programm. Zehn Jahre brauchte es, bis der Autor das traumatische Kriegserlebnis auf das Papier bannte und in Im Westen nichts Neues über eine Generation berichtete, "die vom Kriege zerstört wurde - auch wenn sie seinen Granaten entkam". Das Buch fand eine überwältigende Resonanz und Zuspruch bei jenen, die sich nach dem Ersten Weltkrieg von Kriegsverherrlichung und Militarismus in der Weimarer Republik der 1920er Jahre distanzierten und Pazifisten geworden waren. Rechtsnationale und nationalsozialistische Kreise reagierten wütend auf die Veröffentlichung, brandmarkten den Autor als vaterlandslosen Gesellen, der deutsches Kriegsheldentum herabwürdigen würde. Von dieser Hetzkampagne 1929 bis zur Vernichtung von Remarques Schriften am 10. Mai 1933 durch die Nationalsozialisten mit dem Feuerspruch: "Gegen literarischen Verrat am Soldaten des Weltkrieges, für Erziehung des Volkes im Geiste der Wehrhaftigkeit", waren es nur wenige Jahre. Remarque gehörte zu jenen Autoren, die Hitler-Deutschland frühzeitig verließen. Im Schweizer Exil im April 1937, beim Hören des "kommunistischen Senders" aus Deutschland, dem er "bewundernswerten Mut" bescheinigte, und im Angesicht der deutsch-italienischen Militär-Intervention gegen die Spanische Republik, spürte er den "Blutgeruch über Europa" und sah den Weltfrieden in der Hand von "zwei ehrgeizigen Hanswürsten" (V/277), Hitler und Mussolini, womit er die politischen und sozialökonomischen Zusammenhänge verkannte, sich aber der Kriegsgefahr, die vom Faschismus ausging, bewusst war.

Erich Paul Remark wurde am 22. Juni 1898 als Sohn eines Buchbinders in Osnabrück geboren. Nach dem Besuch der Volksschule bereitete er sich auf das katholische Lehrerseminar vor, das er ab 1915, getrieben vom Wunsch, "durch Bildung Armut und sozialer Herkunft zu entkommen" (I, 564), besuchte. In dieser Zeit schloss er Freundschaft mit dem in Osnabrück ansässigen Maler Friedrich Hörstemeier (1882-1918), bei dem sich kunstinteressierte Jugendliche, darunter der spätere Schriftsteller und Kommunist Fritz Erpenbeck und der Maler Friedel Vordemberge, trafen. Hörstemeier, ein Anhänger der Lebensreformbewegung, war Freund und geistiger Mentor des jungen Remarque, der im Juni 1916 seine erste Geschichte in einem Osnabrücker Heimatblatt publizierte. Im November erhielt er seine Einberufung zum Militär, womit die "Märchenklause" (V, 251) bei Hörstemeier, wie er sie im Tagebuch nannte, zerbrach. Remarque kam im Juni 1917 an die belgische Westfront, wo er Schanzdienst verrichtete und Ende Juli verwundet wurde. Er blieb bis zum Kriegsende als Schreiber in einem Duisburger Hospital. Der Tod der Mutter 1917 und der Hörstemeiers 1918 sowie das Kriegserlebnis ließen ihn in eine Krise stürzen, die sich in seinen frühen Gedichten ablesen lässt. Einsamkeit und Abschied, romantischer Weltschmerz und Szenarien vom "Weltenende" (IV, 446), was an Jakob van Hoddis berühmtes expressionistisches Gedicht Weltende erinnert, bestimmen die Lyrik. Im Tagebuch spricht bereits der Pazifist: "Ist dieser Krieg nicht eine tolle Verkehrung der Natur? Eine Minderheit diktiert, befiehlt der großen Mehrheit: Jetzt ist Krieg! Ihr habt auf alle Pläne zu verzichten, sollt roheste und brutalste Tiere werden, sollt zum fünften Teil sterben?" (V, 254). In Im Westen nichts Neues führte Remarque dem Leser Verrohung und Animalisierung der Menschen, die im Krieg zu "denkenden Tieren gemacht" wurden (IWnN, 184), vor Augen. Im Oktober 1918 notierte er angesichts des bevorstehenden Friedens: "alles schief, verschoben, zerbrochen - so fängt man jetzt ein Leben wieder an, daß man einst so heiter und glückesvoll verlassen hat. Einsam und zerrissen. Alles grau und trübe." (V, 258)

Mit seinem Roman-Erstling Die Traumbude, der 1920 im Dresdner Verlag Die Schönheit erschien und in dem Remarque die Jugendjahre in Osnabrück, die Hörstemeier-Zeit und den Verlust seiner wichtigsten Bezugspersonen verarbeitete, versuchte er, die innere Leere zu überwinden. Er wollte künftig als Schriftsteller leben. Der Roman spiegelt die Suche nach seiner künstlerischen Identität wider, sein Schwanken zwischen bürgerlichem Lebensentwurf und Künstler-Existenz. Im November 1920 quittierte Remarque den Schuldienst. Im Juni 1921 wandte er sich an den Schriftsteller Stefan Zweig. Er sandte ihm einige Gedichte, bezeichnete sich als "Wandervogel, Schafhirt, Arbeiter, Soldat, Autodidakt, Lehrer, Schriftsteller" (V, 49) und bat um ein kritisches Urteil. Die Antwort ist nicht überliefert, doch 1929 schrieb Remarque erneut an Zweig, dankte ihm für die frühe Ermutigung und sandte ihm Im Westen nichts Neues "als einen Anfang" (V, 81)

Zunächst wechselte Remarque als Werbechef und Redakteur nach Hannover zur Zeitschrift Echo Continental. In diese Zeit fällt seine Namensänderung: aus Remark wird der Schriftsteller Remarque, der Beiträge, Kurzprosa und Essays unter zahlreichen Pseudonymen publiziert. Anhand seiner frühen Texte lässt sich Remarques künstlerische Entwicklung nachvollziehen und zwar so konzis, wie man es selten bei einem Autor findet. Es beeindruckt seine thematische Spannbreite als Journalist und Kritiker, was nicht zuletzt mit dem von ihm verantworteten Journal zu tun hatte. Er schreibt über Sport, insbesondere Automobilsport, bedingt durch die Werbezeitschrift des Reifen- und Gummiwarenherstellers Continental. Es erscheinen Buch- und Filmkritiken sowie Essays und überraschend ironisch-satirische Beiträge wie Über das Mixen kostbarer Schnäpse. Remarque wird zudem mit der Serie Die Conti-Buben erfolgreicher Comic-Autor. Er vertieft seine seit Kindheitstagen enge Beziehung zur Musik, erschließt sich Werke der bildenden Kunst und setzt sich mit kunsttheoretischen Fragen auseinander. In Vom Stil unserer Zeit (1923) fließen Erfahrungen des Journalisten, Werbetexters und ästhetische Überlegungen zusammen. Kunst müsse den Geist der Zeit atmen, so Remarque. Diese sei "eiliger und hastiger geworden", der "merkantile Zug" (IV, 163) dominiere. "Die Romantik ist tot", konstatiert er, doch er sieht die dem "Jahrhundert der Arbeit und der Motoren" (IV, 162, 166) innewohnende Poesie und liefert Schlüsselwörter für die Moderne: "Wir leben im Zeitalter der Warenhäuser und Fabriken, der Hochöfen und Untergrundbahnen, der Riesenbahnhöfe und Expreßzüge, der Automobile und Flugzeuge. Die Kunst unserer Zeit ist streng und sachlich. Sie verschmäht das Beiwerk [...]. Sie ist in der Gestaltung mathematisch herbe; aber dahinter fühlt man die sausende, dunkle Phantastik des Zeitalters der Maschinen und Motoren aufzucken." (IV, 182) Diese Sicht bestimmte Remarques ästhetisches Programm und zeigte sich erstmals im Roman Im Westen nichts Neues, der im nüchternen Staccato-Stil das technisierte Töten im Ersten Weltkrieg, Trommelfeuer und Stellungskampf, beschrieb.

Doch zunächst entstand 1924 mit Gam der zweite Roman Remarques, den er zu Lebzeiten nicht veröffentlichte, dem aber in mehrfacher Hinsicht eine Schlüsselfunktion zukommt. Gam markiert den Bruch Remarques mit der überlieferten Ästhetik und mit bürgerlichen Konventionen. Die weibliche Hauptfigur Gam spielt in ihrer Beziehung zu mehreren Männern unterschiedliche Lebensentwürfe durch. Jeder dieser Männer steht für eine Lebensphilosophie. Gam, was an das englische "game" erinnert, kann als spielerische Suche nach ästhetischen Ausdrucksmöglichkeiten und Lebensentwürfen gelesen werden. Der Roman, in seinem facettenhaften Erzählstil, dessen Handlung und exotische Orte nur als Kulisse der Identitätssuche dienen, endet mit den Worten: "Ich beginne - ich bin bereit -" (I, 361). Vier Jahre später erschien Im Westen nichts Neues, das er gegenüber Stefan Zweig als seinen "Anfang" bezeichnete. Gam wurde zum "Steinbruch" für das weitere Schaffen. Figurennamen tauchen in späteren Texten wieder auf, so Ravic in Arc de Triomphe und in seinem letzten Roman Das gelobte Land. Lavalette findet sich in der Lyrik (Lavalette erzählt), wurde zudem eines von Remarques Pseudonymen. In Briefen an Marlene Dietrich nannte er sich selbst Ravic. Die Dietrich kannte als eine der Wenigen den Roman, was darauf deutet, dass er Remarque wichtig war.

Gam ist eine Reisende wie ihr männliches Seitenstück Kai in Station am Horizont, dem dritten Roman Remarques, der 1927, noch vor Im Westen nichts Neues, entstand und erschien. Das Motiv des Reisens zieht sich durch Remarques Frühwerk. Im Gedicht Schnellzug in der Nacht (1921) drängt es das rastlose lyrische Ich "Sausend / Zu den Sternen / Am Horizont, und Fernen - / Unermeßlichen, lockenden Sternenfernen -." (IV, 455) Nicht Ziele und Wege bestimmen das Dasein von Gam und Kai, der als Rennfahrer ein Jet-Set-Leben führt, "nur die Spannungen" (I, 307). Die frühen Romane sind Ausdruck der seelischen Zerstörung, der Rastlosigkeit und fehlenden Orientierung, die Remarques Leben nach dem Krieg bestimmten. In Im Westen nichts Neues stellt die Hauptfigur Paul Bäumer schließlich desillusioniert fest: "Heute würden wir in der Landschaft unserer Jugend umhergehen wie Reisende", die allerdings "keine Ziele" mehr haben (IWnN, 89, 196). Und weiter heißt es: "Der Krieg hat uns für alles verdorben [...] Wir sind Flüchtende. Wir flüchten vor uns. Vor unserem Leben." (IWnN, 67). Das traf nicht zuletzt für Remarque selbst zu. Der Flucht vor sich selbst, die der Welterfolg von Im Westen nichts Neues noch verstärkte, folgte nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten in Deutschland seine tatsächliche Flucht, die Emigration, die nun zum bestimmenden Thema in seinem Schaffen wurde.

Als verfemtem Autor war Remarque nach 1933 eine Rückkehr nach Deutschland unmöglich. Er blieb zunächst in seinem Schweizer Domizil in Porto Ronco am Lago Maggiore. Die sprudelnden Einnahmen aus seinem Buch Im Westen nichts Neues hatten den Kauf des Hauses ermöglicht, in dem er später Emigranten aus Deutschland Zuflucht gewährte. Der Schriftsteller, der bereits Mitte der 1920er Jahre mit seiner in zahlreichen Journalen publizierten Kurzprosa ziemlich präsent war, stieg nach seinem Bestseller über Nacht in die High Society auf und sorgte mit seinem Privatleben, Beziehungen u.a. zu Film-Diven wie Greta Garbo, Marlene Dietrich oder Natasha Paley, immer wieder für Schlagzeilen. Er lebte ein spannungsvolles Leben, das Werk und Schaffen zu überlagern drohte und von konservativen Medien gern benutzt wurde, seine pazifistische linksbürgerliche Haltung zu desavouieren. Am 9. April 1938 hielt er im Tagebuch fest: "Arbeit. Eine Welt gegen die andere. Aber ist es für mich nicht schon zu spät? Endlos viel versäumt. Viele Spannungen zerflossen. Im Brei von Faulheit, Passivität und Abseitsstehen." (V, 281) Remarque sympathisierte mit dem Spanischen Bürgerkrieg und konstatierte: "Müßte hingehen." (V, 283), aber er ging nicht. Und kurz darauf: "Ich muß zurück. [...] Zurück in die Zeit vor I.W.n.N." (V, 285-286) Der Erfolg hatte ihn aus der Bahn geworfen. Im Herbst 1938 rechnete er im Tagebuch ab: "Genug von Tucken, Weibern u. Amouren! Nimm dich, du Ich, und stell dich an deinen Platz!" (V, 291) Erst nach der Trennung von der Dietrich Ende 1940 konnte er den ersten Band seiner Exil-Tetralogie Liebe deinen Nächsten fertigstellen, dessen Motto auch als Klammer für sein Leben stehen könnte: "Man braucht ein starkes Herz, um ohne Wurzel zu leben." Entwurzelt nach dem Ersten Weltkrieg, wurde Remarque 1938 nach seiner Ausbürgerung aus dem Deutschen Reich durch die Nationalsozialisten zum Staatenlosen, der ab 1939 im amerikanischen Exil lebte, 1947 die US-Staatsbürgerschaft erwarb und nach dem Zweiten Weltkrieg mit seiner letzten Frau, der Schauspielerin Paulette Goddard, zwischen der Schweiz und den USA als Aufenthaltsorten pendelte.

Das Exemplarische von Flucht und Vertreibung als ewiges, immer wiederkehrendes Schicksal ist erstmals in der Geschichte des passlosen Emigranten und Halbjuden Ludwig Kern in Liebe deinen Nächsten gestaltet. Ludwig gelingt am Ende zusammen mit Ruth die Flucht nach Mexico. Der passlose Arzt Ravic aus Remarques zweitem Welterfolg, dem Roman Arc de Triomphe (1945), geht hingegen mit Kriegsbeginn in ein französisches Internierungslager, nachdem er sich an dem Gestapo-Schergen Haake für dessen Brutalität und Unmenschlichkeit gerächt und zu seiner wahren Identität als Ludwig Fresenburg zurückgefunden hat. In seinem dritten Exil-Roman Die Nacht von Lissabon (1962), der aufgrund seiner raffinierten erzählerischen Anlage und Dichte des Erzählens künstlerisch wohl als der bedeutendste Band der Tetralogie gelten kann, entscheidet sich Josef Schwarz am Ende für aktiven Widerstand, allerdings in der Fremdenlegion, weil er sein Leben nicht mit Selbstmord verschwenden will, solange es noch SS-Folterknechte gibt (DNvL, 305). Das Exil-Thema ließ Remarque nicht los. Bis zu seinem Tod arbeitete er an seinem unvollendet gebliebenen vierten Emigranten-Roman Das gelobte Land, der zu Recht als "Kommentar seines Lebenswerkes" (Schneider, II, 442) und als Quintessenz seines Schaffens gelten kann. Wie in seinen anderen Exil-Romanen wird auch hier die Liebe in Zeiten der Barbarei zur Gegenwelt, die Überleben möglich macht, die nun aber nur noch als erfüllter Augenblick denkbar ist. Die Heimat der Entwurzelten auf der Via Dolorosa, dem Leidensweg der Emigranten durch Europa, ist die Kunst: "Sie ändert sich nicht, sie enttäuscht nicht, sie läuft nicht weg." (II, 371) Aber auch die Kunst als kulturelles Gedächtnis der Menschheit, die in den Vorgängerromanen identitätsstiftend und lebensrettend ist, und die in ihr bewahrte Humanität erweisen sich im Roman als bedroht, wenn Museen bombardiert und Kunstwerke zur Ware werden, mit denen Kriegstreiber und Kriegsverbrecher handeln.

Remarque schrieb an gegen das Vergessen von Krieg und Barbarei. Er wandte sich gegen die politische Restauration in der Adenauer-Ära und wurde nicht müde, wie 1956 in seinem einzigen politischen Essay Seid wachsam!, vor dem Wiedererstarken von Nationalsozialismus und Militarismus zu warnen. Immer wieder fragte er in seinen Texten nach den Ursachen des Krieges, ohne gültige Antworten zu finden. In Im Westen nichts Neues bemerken die Soldaten, es müsse "Leute geben, denen der Krieg nützt. [...] die am Krieg verdienen wollen." (IWnN, 141) An diesem Punkt wird die Ursachensuche abgebrochen, was ihm Kritik von Seiten der politischen Linken einbrachte. 1944 hielt Remarque im Tagebuch fest: "Eine Klasse, die zum Untergang verurteilt ist, - die bürgerliche, konservative, reaktionäre, sieht nicht die Zeichen. [...] Der Krieg hat die Auseinandersetzung zwischen Arbeit u. Kapital nur hinausgeschoben, - sie geht an seit 1918." (V, 388) Damit hatte Remarque den Grundwiderspruch seiner Epoche erkannt, ohne ihn jedoch für sein künstlerisches Schaffen produktiv machen zu können, da ihm hierfür die politischen Einsichten fehlten. Sein Tagebuch belegt, dass er 1942 mit dem Kriegsende einen "gewaltigen Aufschwung" der politischen Literatur erwartete, zu dem er beitragen wollte: "Politische Literatur. Stärker noch als die russische nach der Revolution [...] Jetzt schon outlinen. Bereit sein dafür. Wer sich noch nicht aufgegeben hat, ausgeschrieben hat, kann noch dabei sein." (V, 367) Die Ende der 1940er Jahre entstandene politische Lyrik, die sich im Nachlass fand, nimmt Metaphern aus Im Westen nichts Neues auf und fängt die Brutalität des Krieges ein, der den Menschen sich selbst entfremdet und ihn zum "Automaten" (IWnN, 84) verkommen lässt. Im Gedicht Soldat im vierten Jahr heißt es: "Ich weiß nichts mehr. Ich kann nur kämpfen. - / Ich bin ein Automat des Todes noch." (IV, 485) Das Staccato-Hämmern der Verse und der Satzabbruch als Stilmittel weisen bis in die Form auf die Entfremdung und Zerstörung des Individuums und das technisierte Töten. Eine Antwort auf die Frage nach den Ursachen des Krieges bleibt allerdings das lyrische Ich schuldig. Es rettet sich vielmehr in Unbestimmtheit bis Ratlosigkeit: "Ich weiß, ich morde für ein fernes Ziel, / Papier vielleicht, - Lüge auch, - vielleicht auch unser aller Traum / Und vielleicht wird es schon - - während wir noch kämpfen / Gemordet hinter Kassenschaltern bereits, und wir kommen / heim mit einer leeren Fahne. - " (IV, 485).

1956 äußerte Remarque, nicht allein Krise und Arbeitslosigkeit hätten die Massen den Nazis "zugetrieben", sondern "die jahrhundertealte Erziehung zum unbedingten Gehorsam" (IV, 405). Damit nahm er einen Gedanken auf, den schon Im Westen nichts Neues geprägt hatte. Während dort mit der Frage nach den Kriegsprofiteuren die gesellschaftliche Dimension angedeutet wurde, fokussiert der letzte Roman Das gelobte Land in diesem Zusammenhang die Verantwortung des Einzelnen. Im Roman, der konzentrisch um das Erinnern und Vergessen kreist, ist für den Ich-Erzähler das Gedächtnis "der größte Fälscher", denn "alles, was man überlebte, wurde in der Erinnerung rasch zum Abenteuer, - sonst gäbe es nicht immer neue Kriege." (II, 88) Damit wurde der Krieg als Instrument der politischen Machtausübung zur Durchsetzung ökonomischer und politischer Interessen zu einem allgemeinmenschlichen Phänomen erklärt. Remarque blieb die Erkenntnis verstellt, dass Konzerne das Nazi-Regime stützten und aus den NS-Verbrechen Profit zogen. Dass darunter - Ironie der Geschichte - auch der Arbeitgeber Remarques in den 1920er Jahren, der Reifenhersteller Continental, war, belegt eine kürzlich veröffentlichte Studie. Sie offenbart, dass die Continental-Werke zwischen 1933 und 1945 zum "eigentlichen Rückgrat der nationalsozialistischen Rüstungs- und Kriegswirtschaft" gehörten, eng mit dem Nazi-Regime verbunden waren und aus der Ausbeutung tausender Zwangsarbeiter Millionengewinne erzielten. Das Unternehmen stellte neben Kriegsgeräten auch Schuhsohlen her und beteiligte sich, an "Schuhteststrecken, auf denen KZ-Häftlinge bis zur Entkräftung und Tod ausgebeutet und misshandelt wurden". Dass die Studie zu dem Ergebnis kommt, dass sich daraus "keine unheilvollen Konstellationen eines systematischen Unterdrückungssystems" ergeben hätten, ist an Zynismus kaum zu überbieten.

Remarques Spätwerk grundierte die schon 1950 geäußerte "stumpfe Verzweiflung mit aller Politik" (V, 415). Sah er in Westdeutschland die "Nazis überall wieder rampant" (V, 501), so den Stalinismus als größten Verhinderer der "Weltrevolution" (V, 415). Wenige Jahre später konstatierte er: "Die Aussichtslosigkeit der Vernunft. Der Sieg, nicht nur der Dummheit, - der Reaktion u. des Egoismus u. der primitivsten Form, überall unter der Disguise des Fortschritts, der Wahrheit, der Menschlichkeit. Hypokrit! Hypokrit!" (V, 484) Diese Desillusionierung führte in seinem letzten Roman zu dem erschreckend prophetischen Satz: "In hundert Jahren werden wir alle in der Erde leben, aus Angst vor unseren Mitmenschen. Dieser Krieg ist nicht der letzte" (II, 356). Dass sich an den Zweiten Weltkrieg bis heute weltweit unzählige Kriege angeschlossen haben, ob in Vietnam, Afghanistan, Jugoslawien, Syrien, im Kosovo oder im Irak, steht für sich. Den Krieg als Verbrechen gegen die Menschlichkeit in all seinen Facetten beschrieben und gebrandmarkt zu haben, darin liegt das große Verdienst Remarques, dessen Werk aktueller denn je ist und so lange nichts an Aktualität verlieren wird, so lange es Krieg, Flucht und Vertreibung auf der Welt gibt. Die 1998 erschienene fünfbändige Ausgabe Das unbekannte Werk, die auch Briefe und Tagebücher enthält, überzeugt mit ihrer editorischen Sorgfalt. Sie ermöglicht neue Zugänge zu Remarques Werk und hebt dessen Gegenwärtigkeit ins Bewusstsein. In der zum 50. Todestag vom Remarque-Friedenszentrum in Osnabrück initiierten Ausstellung Weltweit Worldwide Remarque spiegelt sich diese Aktualität in der dokumentierten weltweiten Präsenz seiner Werke wider

Informationen zum Erich Maria Remarque-Friedenszentrum Osnabrück
https://www.remarque.uni-osnabrueck.de/

Mehr zur Ausstellung Weltweit Worldwide Remarque
https://www.remarque.uni-osnabrueck.de/wwr/ausstell/index.htm

Zitierte Literatur:

Erich Maria Remarque: Das unbekannte Werk
Frühe Prosa, Werke aus dem Nachlaß,
Briefe und Tagebücher.
Band I-V
Hg. v. Thomas F. Schneider u. Tilman Westphalen
Köln: Kiepenheuer & Witsch 1998
ISBN: 3-462-02695-X

Erich Maria Remarque: Im Westen nichts Neues
Roman (IWnN)
Mit einem Nachwort von Tilman Westphalen
Köln: Kiepenheuer & Witsch 1998

Erich Maria Remarque: Die Nacht von Lissabon
Roman (DNvL)
Mit einem Nachwort von Tilman Westphalen
Köln: Kiepenheuer & Witsch 2000.

Erich Maria Remarque: Arc de Triomphe
Roman (AdT)
In der Fassung der Erstausgabe mit Anhang
und einem Nachwort hg. v. Thomas F. Schneider
Köln: Kiepenheuer & Witsch 2017

Erich Maria Remarque: Liebe deinen Nächsten
Roman (LdN)
In der Fassung der Erstausgabe mit Anhang
und einem Nachwort hg. v. Thomas F. Schneider
Köln: Kiepenheuer & Witsch 2017

Julie Gilbert: Erich Maria Remarque und Paulette Goddard.
Biographie einer Liebe
Düsseldorf/München: List Verlag 1997.

https://www.continental.com/de/presse/pressemitteilungen/ns-studie-231726

24. September 2020


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