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AUTOREN/067: Zum 100. Geburtstag von Erich Fried (NG/FH)


Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte Nr. 4/2021

Nicht mitzuhassen, mitzulieben bin ich da
Zum 100. Geburtstag von Erich Fried

Von Hanjo Kesting


Er war der produktivste Lyriker deutscher Sprache, ein "rasender Verworter". Schon Hans Magnus Enzensberger, der Erich Fried in den frühen 60er Jahren, als sein Ruhm noch esoterisch war, in London besuchte, sprach scherzhaft von den "ungefähr zwölftausend Gedichten, die Fried geschrieben habe und allesamt auswendig könne". Vor dieser Produktivität musste jeder erblassen, der sich an Gottfried Benns Satz erinnerte, man könne im Laufe eines Lebens vielleicht ein halbes Dutzend gültiger Gedichte zustande bringen.

Seit Mitte der 60er Jahre, als sein Gedichtband und Vietnam und erschien, zählte Fried auch zu den meistgelesenen Lyrikern: Der Vietnam-Band erreichte in kurzer Zeit eine Auflage von 50.000 Exemplaren, und die Liebesgedichte von 1979 wurden zum meistverkauften Lyrikband der Nachkriegsgeschichte. Das hatte im Fall der Vietnam-Gedichte mit dem dezidiert politischen Thema im Vorfeld der Studentenrevolte zu tun, im Fall der Liebesgedichte mit der Rückkehr zu lyrischem Urstoff, zu Themen wie Angst und Liebe, Verzweiflung und Hoffnung, Trauer und Tod. Fried fand dafür erstaunlich einfache und einprägsame lyrische Formen und Formeln. Schwerer zu erklären ist, dass die Popularität dieses Poeten sich auch heute, über 30 Jahre nach seinem Tod, noch nicht völlig verflüchtigt hat. Vielmehr wirbt sein Verlag, Wagenbach in Berlin, noch immer damit, dass jährlich 20.000 Lyrik-Bände von Erich Fried verkauft werden.

Fried war seiner Herkunft nach Österreicher. 1921 in Wien geboren, musste er bereits mit 17 Jahren, nach dem sogenannten "Anschluss" Österreichs durch die Nationalsozialisten, als Kind einer jüdischen Familie ins Exil gehen - sein Vater wurde im Mai 1938 bei einem Gestapo-Verhör ermordet. Er kam nach London, wo er bis zu seinem Tod lebte, volle 50 Jahre, obwohl er England nicht als besonders assimilationsfreundliches Land erlebte. Seit Mitte der 60er Jahre war er unentwegt auf Reisen, meist nach Deutschland, wo er im Laufe der Zeit sein großes Publikum fand. Eine eigentliche Heimat hatte er nicht. Als solche hätte sich Israel angeboten, aber Fried gehörte zu den schärfsten Kritikern der Politik Israels gegenüber den Palästinensern und überhaupt des Zionismus, in dem er eine Form von Rassismus sah. Zur Erklärung hat man manchmal von "jüdischem Selbsthass" gesprochen, aber das trifft im Falle Frieds nicht zu. Er war kein großer Hasser, eher ein großer Liebender. Die NS-Herrschaft hinderte ihn nicht, Deutschland und Österreich, die Länder, die ihn verfolgt und vertrieben hatten, in seinen ersten Gedichtbänden, die am Ende des Krieges, 1944 und 1945, in London erschienen, regelrecht zu umarmen. Und obwohl er ein versierter Übersetzer aus dem Englischen war und die widerspenstigen Werke von Dylan Thomas ebenso übersetzt hat wie fast alle Stücke von Shakespeare, war die deutsche Sprache die ihm zutiefst angehörige Mutter- und Dichtungssprache.

Fried brauchte ein volles Jahrzehnt, um sich aus der Hermetik seiner dichterischen Anfänge herauszuarbeiten. Von den Einflüssen der "Konkreten Poesie", von Autoren der Wiener Gruppe um Ernst Jandl, aber auch von englischen Lyrikern wie Wilfred Owen hat er sich erst allmählich freigemacht. Von Owen übernahm er den Ablautreim, um die gängigen traditionellen Reimformen zu vermeiden. Er wollte sich aber auch nicht ganz in freie Formen auflösen, und so schrieb er zunächst Ablautreim- und Assoziationsgedichte, obwohl er später nicht selten zum scheinbar abgedroschenen Endreim zurückkehrte.

Fried war keineswegs von Anfang an nur der "Protestlyriker", den viele in ihm sehen wollten, denn da war auch eine Wortspielkunst von großer Virtuosität und eine souveräne Zitat- und Anspielungstechnik, eine Form von lyrischem Sprachdenken, das Poesie und Erkenntnis scheinbar mühelos ineinanderfließen ließ. Gemeint ist eine dialektische Bewegung von Spruch und Widerspruch, die aus dem sprachlichen Material selbst eine kritische Tendenz entbindet. Wörter und Redewendungen wurden kombiniert, assoziativ verknüpft, dialektisch durchgespielt, wie es bestimmten Techniken der Konkreten Poesie entsprach. Doch unterschied sich Fried von den Konkreten Poeten dadurch, dass bei ihm selten die Sprache selbst zum Thema wurde. Das Gedicht war bei ihm nicht selbstgenügsames Kunststück, sondern wurde zum kritischen Dechiffrierinstrument. So hat Peter Rühmkorf es am Beispiel der Vietnam-Gedichte beschrieben: "Hier kann das von den Meinungstrusts zum Analphabeten zweiten Grades herabgewürdigte Landeskind zum zweiten Mal das Lesen lernen."

Fried zielte auf einen kritischen Umgang mit der Sprache und mit den durch sie bezeichneten Gegenständen, auf eine Entlarvung oder Entschlüsselung eingefahrener Sprach- und Denkgewohnheiten, in denen sich gesellschaftliche Stereotype verfestigt haben und unerkannte Machtstrukturen verbergen. Man nehme als Beispiel das 1958 entstandene Gedicht Die Maßnahmen. Schon vom Titel her nimmt es auf Bertolt Brechts Stück Die Maßnahme Bezug, worin für das gute Ziel, nämlich das Erreichen einer sozialistischen Gesellschaft, die Maxime gelten soll, dass der Zweck die Mittel heiligt. Frieds Gedicht entwickelt diesen Gedanken konsequent weiter:


"Die Faulen werden geschlachtet die Welt wird fleißig

Die Häßlichen werden geschlachtet die Welt wird schön

Die Narren werden geschlachtet die Welt wird weise

Die Kranken werden geschlachtet die Welt wird gesund

Die Traurigen werden geschlachtet die Welt wird lustig

Die Alten werden geschlachtet die Welt wird jung

Die Feinde werden geschlachtet die Welt wird freundlich

Die Bösen werden geschlachtet die Welt wird gut"


Seit Mitte der 60er Jahre galt Erich Fried als der "politische Dichter" schlechthin, als der Protestlyriker, gegen den damals auch Günter Grass polemisierte: "Ohnmächtig protestiere ich gegen ohnmächtige Proteste", schrieb er 1967 in dem Band Ausgefragt. Grass war nicht der Einzige, der meinte, dass Lyrik mit einer solchen Thematik überfordert sei. In Wirklichkeit erwies Fried der in Hermetik erstarrten Nachkriegslyrik damit einen großen Dienst. Zum Skandalon wurde auch seine Kritik an der Politik Israels nach dem Sechstagekrieg, die dadurch besonders kompliziert war, weil sie von einem Juden geübt wurde. Schließlich mischte sich Fried immer wieder in die Debatten über die RAF und die Stammheimer Selbstmorde ein, die er öffentlich infrage stellte. Kein schwieriges Thema ließ er aus, angestoßen durch empirisch begründetes Misstrauen und emotionale Anteilnahme, aber nicht immer gedanklich ausgereift und dichterisch bewältigt.


Der "gute Mensch" von London

Die Fried-Werkausgabe enthält auf fast 2.000 Seiten über 2.000 Gedichte. Die Quantität seiner Hervorbringung war berühmt oder auch berüchtigt. Wo immer er war, auf einer Bahnfahrt oder im Wartesaal, in einer Abendgesellschaft oder bei einem Autorentreffen, jederzeit konnte er ein Gedicht notieren. Mit Gedichten Wirkung zu erzielen, Bewusstseinshaltungen zu verändern, war das Ziel, das er anstrebte. Dadurch ändert man sicher nicht die Welt, aber vielleicht das Bewusstsein. Vor allem wollte Fried gegen Entfremdung kämpfen, auch gegen die Entfremdung des Menschen von sich selbst. In einer Zeit, in der es Gaskammern und Massenvernichtungen gäbe, sagte er in einem Interview, müsse man auch die Mentalität des Einzelnen untersuchen und fragen, über welche Transmissionen im Individuum sich die schlimmen politischen und gesellschaftlichen Entwicklungen vollzögen.

Was man an Fried öffentlich weniger wahrnahm und nicht selten ins Gegenteil verkehrte, waren seine menschliche Wärme und Güte, seine beinahe unbegrenzte Verständnis- und Versöhnungsbereitschaft. Gern zitierte er Antigones Satz aus der Tragödie des Sophokles: "Nicht mitzuhassen, mitzulieben bin ich da". Unter Kollegen und Freunden galt er als der "gute Mensch" schlechthin. Auch Menschen, die für den Nazismus und rechte Ideologien anfällig waren, wollte er nicht ausgrenzen, schon gar nicht von vornherein abschreiben. Mit Michael Kühnen, einem Anführer der Neonazi-Szene in den 80er Jahren, begab er sich in ein Rundfunkstudio, um mit ihm zu diskutieren und ihn womöglich "zurückzuholen". Man kann eine solche Haltung naiv finden, aber wen man dadurch erreicht oder wem man nur ein Podium bietet, das war und ist schwer zu unterscheiden. Der jetzt veröffentliche Band Der Dichter und der Neonazi von Thomas Wagner belegt, dass der Menschenfreund Erich Fried seine Möglichkeiten wahrscheinlich überschätzte. Doch war Naivität gegenüber einem Dichter noch nie ein gutes Argument. Der Literaturwissenschaftler Hans Mayer, der erste Leiter der von ihm mitbegründeten Wiener "Erich Fried Gesellschaft", schrieb rückblickend: "Für mich ist er, und das wird wahrscheinlich nur ein Jude verstehen können, einer der jüdischen Gerechten gewesen: ein Zaddik, ein Erwählter. Etwas davon habe ich immer gespürt, wenn ich mit Erich Fried zusammen war. Gespürt haben es viele."


Literatur zum Thema: Erich Fried: Mitunter sogar Lachen. Erinnerungen (Mit einem Nachwort von Josef Haslinger). Wagenbach, Berlin 2021, 208 S., 26 EUR. - Erich Fried: Freiheit herrscht nicht. Gespräche und Interviews (hg. von Volker Kaukoreit und Tanja Gausterer). Wagenbach, Berlin 2021, 160 S., 12 EUR. - Thomas Wagner: Der Dichter und der Neonazi. Erich Fried und Michael Kühnen - eine deutsche Freundschaft. Klett-Cotta, Stuttgart 2021, 176 S., 20 EUR.


Hanjo Kesting

ist Kulturredakteur der Zeitschrift Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte. Bei Wallstein erschienen 2019 seine dreibändige Studie Große Erzählungen der Weltliteratur sowie der Essay Theodor Fontane. Bürgerlichkeit und Lebensmusik .

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Quelle:
Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte Nr. 4/2021, S. 55 - 58
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veröffentlicht im Schattenblick zum 18. Mai 2021

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