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FREE GAZA/217: Gerald Oberansmayr - "Blockade des Schweigens gebrochen" (Solidar-Werkstatt Österreich)


Werkstatt-Rundbrief Nr. 15/2011 - 20. Juli 2011
Solidar-Werkstatt für ein solidarisches, neutrales und weltoffenes Österreich

Interview Gaza: "Blockade des Schweigens gebrochen"

Interview mit Gerald Oberansmayr, Teilnehmer der free-Gaza-Flottille II, über seine Einschätzung der diesjährigen Flottille, seine Antwort gegenüber Kritikern und mögliche Lösungsperspektiven im Israel-Palästina-Konflikt.


Frage: Das Ziel der Flottille, die israelische Blockade von Gaza zu durchbrechen, konnte nicht erreicht werden. Eine Niederlage für die free-Gaza-Bewegung?

Gerald: Auch wenn wir unser unmittelbares Ziel - das physische Durchbrechen der Blockade - nicht geschafft haben, ein sehr viel wichtigeres Ziel haben wir erreicht: Die Augen der Weltöffentlichkeit haben sich auf das Unrecht gerichtet, das jenen 1,5 Millionen Menschen widerfährt, die im größten Freiluftgefängnis der Welt leben. Wir haben die Blockade des Schweigens gebrochen, die gerade in den westlichen Ländern über diese permanente Unterdrückung und Demütigung der Menschen in Palästina verhängt worden ist. Immer wieder erreichen uns in diesen Tagen Stimmen aus Gaza, die betonen, wie sehr ihnen unsere Aktion Mut macht. Sie spüren, dass sie nicht vergessen sind und viel Unterstützung auch in den Bevölkerungen jener Länder haben, deren Machthaber mit der israelischen Besatzungspolitik kollaborieren. Ein paar hundert Menschen, die bereit sind, auf völlig gewaltfreie Weise einer waffenstarrenden Militärmacht zu begegnen, getragen von tausenden AktivistInnen und der Sympathie von Millionen, haben Israel und die Großmächte in Aufregung versetzt. Entsprechend war und ist die Stimmung unter den Flottillen-TeilnehmerInnen keineswegs niedergeschlagen, die letzten Diskussionen und Treffen, die ich in Athen erlebt habe, drehten sich bereits um die Vorbereitung der Gaza-Flottille III. Dass Israel im Gefolge der Gaza-Flottille 2010 und im Vorfeld der Flottille 2011 zumindest kleinere Lockerungen der Blockade zugestand, zeigt auch, dass unsere Bewegung erste Erfolge unmittelbar für die Verbesserung der Lebenssituation der Menschen in Gaza erreichen konnte.


Frage: Welche besonderen Eindrücke nimmst Du von dieser Flottille mit?

Gerald: Zum einen natürlich, so viele Menschen aus so vielen verschiedenen Ländern kennen zu lernen. Alleine auf unserem Schiff, der Stefano Chiarini, waren Menschen aus 19 Nationen vertreten. Hier ergaben sich immer wieder spannende Gespräche, hier entstand trotz unterschiedlicher Zugänge und Sprachen rasch Gemeinsamkeit, ob bei den gemeinsamen Trainings für Gewaltfreiheit oder bei der Rund-um-die-Uhr-Bewachung unseres Schiffes, die notwendig wurde, nachdem bereits zwei Schiffe durch Sabotageanschläge beschädigt worden waren. Zum anderen hat mich die Welle an Sympathie beeindruckt, die uns von der griechischen Bevölkerung entgegengebracht worden ist. Am Syntagma-Platz in Athen, dem Kristallisationspunkt der Bewegung gegen das EU-Finanzdiktat, sind wir ebenso freundlich, ja begeistert empfangen worden wie bei öffentlichen Versammlungen im Zentrum von Korfu. Gemeinsam mit den Einheimischen haben wir die Empörung über die griechische Regierung geteilt, als sich diese von der EU zum Gefängniswärter von Gaza degradieren ließ und die Schiffe - zum Teil mit roher Gewalt - am Auslaufen aus den Häfen hinderte.


Frage: In Deutschland und Österreich feinden Regierung und Medien Kampagnen wie die Gaza-Flottille besonders heftig an. Wiederkehrender Tenor der Kritik: "Angesichts der Verbrechen des Holocaust müsse es hierzulande zur Vergangenheitsbewältigung gehören, den Schutz Israels und seiner BürgerInnen nicht in Frage zu stellen."

Gerald: Gerade weil ich für Vergangenheitsbewältigung und den Schutz Israels und seiner BürgerInnen bin, halte ich diese Kritik für verlogen. Ich empfinde es als Verhöhnung der Opfer der Shoa, deren Leid als Begründung für Vertreibung, Besatzung und Krieg zu missbrauchen. Es ist geradezu das Gegenteil von Vergangenheitsbewältigung, wenn sich die Machteliten hierzulande von den Gräuel der Judenvernichtung im Nationalsozialismus auf dem Rücken der PalästinenserInnen exkulpieren wollen und sich damit den Freibrief geben, wieder weltweit Krieg zu führen. Vor allem: Die Unterdrückungspolitik des israelischen Machtapparats schützt die Interessen der westlichen Großmächte, ganz sicher aber nicht die Israels und seine BürgerInnen. Im Gegenteil: Diese Politik setzt letztlich skrupellos Leben und Zukunft von Juden und Jüdinnen im Nahen Osten aufs Spiel setzt, indem diese in eine dauerhafte Gewaltspirale mit ihren Nachbarn verstrickt werden, solange sich die israelischen Machteliten als Vorposten westlicher Kolonialinteressen in dieser geopolitisch zentralen Region instrumentalisieren lassen. Besonders zynisch findet man diese Haltung am rechten Rand - in Österreich z.B. bei der FPÖ - in Form eines rabiaten "antisemitischen Prozionismus": Im eigenen Land will man keine Juden, an den Außengrenzen des Imperiums schätzt man sie aber als Kanonenfutter für den abendländischen Kulturkampf.

Eine wirkliche Sicherheit Israels und der dort lebenden Menschen kann nur durch Frieden und Versöhnung mit den PalästinenserInnen bzw. den Nachbarstaaten erreicht werden. Das setzt voraus, dass sich auf allen Seiten des Konflikts politische Kräfte durchsetzen, die sich aus der Umklammerung durch USA und EU befreien. Denn die Großmächte haben ein Interesse daran, einen permanenten Spannungszustand aufrechtzuerhalten. Die dahinter stehende alte imperiale Logik: Teile und herrsche! Das hält Israel an der Leine, die PalästinenserInnen unter der Knute und die Region mit ihren wirtschaftlichen Reichtümern unter Kontrolle. Und die Rüstungsindustrie profitiert doppelt, wenn Kriegsgerät sowohl an Israel als auch an erzreaktionäre islamistische Diktaturen wie Saudi-Arabien geliefert werden.


Frage: Israel begründet die Blockade auch mit den wiederkehrenden Angriffen aus Gaza auf südisraelische Städte.

Gerald: Sogar der ehemalige Mossad-Chef Epharim Halevy hat öffentlich klargelegt, dass Israel sofort eine Waffenruhe an der Grenze zu Gaza haben könnte, wenn es diese völkerrechtswidrige Blockade beendet. Die free-Gaza-Flottille ist damit nicht nur ein Beitrag zur Überwindung des Leids in Gaza, sondern auch für die Sicherheit der Menschen in Israel. Klarerweise gilt für mich: Jede Form der Terrorisierung der Zivilbevölkerung ist zu verurteilen, natürlich auch Raketen- und Mörserangriffe auf israelische Städte. Aber man sollte im Auge behalten, wie ungleich mörderischer der israelische Staatsterrorismus zuschlägt. Die israelische Menschenrechtsorganisation Betselem hat führt seit 2000 eine Statistik über die Todesopfer im Gaza-Konflikt: 97% aller Toten, 98,5% aller Ziviltoten und 99,6% aller getöteten Kinder sind von der Israelischen Armee (IDF) getötete PalästinenserInnen. Erinnern wir uns an die Militäraktion "Gegossenes Blei" 2008/09: Das was Gaddafi unterstellt wurde (und sich dann als Propagandalüge herausgestellt hat), nämlich eine weitgehend wehrlose Zivilbevölkerung durch Kampfjets zu massakrieren, hat die IDF d rei Wochen lang vor den Augen der Weltöffentlichkeit zelebriert, u.a. mit dem Einsatz von international verbotenen Waffen wie weißem Phosphor. Dabei wurden fast 1.400 PalästinenserInnen getötet, drei Viertel davon Zivilisten und 344 Kinder, 6.000 Häuser zerstört, 100.000 Menschen obdachlos gemacht, Böden und Umwelt vergiftet und lebenswichtige Infrastrukturen zerstört. Wie reagiert die "westliche Wertegemeinschaft" auf dieses Verbrechen: Weiterhin milliardenschwere Waffenlieferungen v.a. von den USA und von Deutschland an Israel, und augenzwinkernde Akzeptanz für die Blockade von Gaza, wo sogar Zement und Düngemittel abgefangen werden, weil sie militärisch relevant sein könnten. Mit Unterstützung von USA und EU kann Israel weiterhin Völkerrecht und UN-Resolutionen mit Füßen treten.


Frage: Die FPÖ und rechtskonservative Kreise haben sich besonders auf die free-Gaza-Flottille eingeschossen, sie als "terroristische Provokation" (FPÖ-Stadtrat David Laser) oder "Hamas-Verbündete" (ÖVP-Volksblatt) denunziert. Es gibt aber auch da und dort von linker Seite Kritik an der Gaza-Flottille, die mit ähnlichen Stereotypen argumentiert.

Gerald: Es gibt viele gute Gründe, die Hamas zu kritisieren, zum Beispiel die schaurige "Charta der Hamas". Andererseits ist ersichtlich, dass die Hamas in ihrer konkreten Politik zunehmend pragmatisch agiert. Sie ist zur Anerkennung Israels in den Grenzen von 1967 bereits, wenn die palästinensische Bevölkerung in einer Volksabstimmung dem zustimmt. Die Hamas bemüht sich, auf palästinensischer Seite eine Waffenruhe gegenüber islamistischen Splittergruppen durchzusetzen, obwohl Israel die Blockade eisern aufrecht erhält und seit "Gegossenem Blei" bereits wieder 159 PalästinenserInnen in Gaza getötet hat. Vor allem muss man zur Kenntnis nehmen, dass die Hamas in - wie auch der eh. US-Präsidenten Carter festhält - "fairen und demokratischen Wahlen" gewählt worden ist. Die israelische Regierung kann sich ihr Gegenüber bei Verhandlungen genauso wenig aussuchen wie die palästinensische. Frieden muss man mit Feinden, nicht mit Freunden schließen. Die Politik der Regierung Netanjahu, die Hamas zu dämonisieren, um die gewählte Regierung der PalästinenserInnen als Verhandlungspartner ausschließen, dient nur einem Zweck: den Status quo von Besatzung und Blockade, von fortgesetzter Vertreibung und Krieg aufrechtzuerhalten. Der Ruf nach Verhandlungen mit den gewählten palästinensischen Repräsentanten gehört auch zu den wichtigsten Forderungen der israelischen Friedensbewegung. Wer den Fundamentalisten auf beiden Seiten den Nährboden entziehen will, muss diesen Status quo der permanenten Demütigung überwinden und den Boden für einen gerechten Frieden aufbereiten. Genau diesem Zweck dient die Flottillen-Bewegung.


Frage: Welche Lösungsperspektiven siehst Du für den Israel-Palästina-Konflikt?

Gerald: Eine Option besteht in einem palästinensischen Staat in den Grenzen von 1967, d. h. in der Umsetzung der entsprechenden UN-Resolutionen. Diese Option wird jedoch durch die Politik des illegalen Siedlungsbaus in den besetzten Gebieten und die Grenzmauer, die tief in das Westjordanland einschneidet, immer mehr verunmöglicht. Erst kürzlich hat Netanjahu unter dem Beifall des US-Kongress verkündet, dass er nicht daran denkt, die Grenzen von 1967 anzuerkennen. Unter diesen Bedingungen würde eine Zwei-Staaten-Lösung darin münden, einige unzusammenhängende, von israelischen Siedlungen, Straßen und Militärstützpunkten völlig zerrissene, palästinensische "Bantustans" zu gründen, die wirtschaftlich nicht lebensfähig sind und damit erst recht in politischer Abhängigkeit gehalten werden können. Damit rückt die zweite Option, ein gemeinsamer binationaler Staat Israel/Palästina, immer stärker auf die Tagesordnung. Interessant finde ich die von fortschrittlichen Israelis und Palästinensern entwickelte Idee einer gemeinsamen Föderation mit gemeinsamen Institutionen unter Beibehaltung einer israelischen und palästinensischen Entität. Klarerweise würde das aber erfordern, dass auf beiden Seiten antirassistische und antikoloniale Kräfte erheblich stärker werden. Die Solidarwerkstatt versucht ihren bescheidenen Beitrag dazu zu leisten, indem wir z.B. der israelischen Friedensbewegung, die die Besatzungspolitik der israelischen Regierung bekämpft, und palästinensischen Gruppen, die in Opposition zur Hamas eine Demokratisierung und Säkularisierung des Lebens in Gaza fordern, Gehör verschaffen. Der wichtigste Beitrag, den wir hier für Frieden im Nahen Osten leisten können, ist freilich das Ringen um eine andere österreichische Außenpolitik.


Frage: Wie beurteilst Du die österreichische Außenpolitik in Bezug auf den Israel/Palästina-Konflikt?

Gerald: Außenminister Spindelegger hat zwar die Aufhebung der Gaza-Blockade gefordert, gleichzeitig aber wird der rechts-außen-Regierung in Tel Aviv signalisiert, dass man es damit keineswegs ernst nimmt: Österreich stimmte gemeinsam mit den anderen EU-Staaten 2010 in der IAEO einen Antrag nieder, der Israel aufforderte, dem Atomwaffensperrvertrag beizutreten; Österreichs hat seit 2008 sogar ein militärischen Kooperationsabkommen für die Zusammenarbeit mit den israelischen Streitkräften. Als besonders erbärmlich habe ich empfunden, als wir in Griechenland erfahren haben, dass sich Spindelegger beim Besuch des israelischen Außenministers Lieberman regelrecht dafür entschuldigte, dass sich Österreicher an der Gaza-Flottille beteiligen. Bereits im Vorfeld drohte das Außenministerium den Teilnehmern konsularische Gebühren in der Höhe von EUR 50.000,- an. Der traurige Befund: Eine eigenständige österreichische Außenpolitik ist faktisch nicht mehr vorhanden, Spindelegger & Co machen keinen Schritt mehr ohne Absprache mit Brüssel und Berlin. Ein kleines, neutrales Land wie Österreich könnte wichtige Initiativen für einen Friedensprozess im Nahen Osten setzen, das hat Kreisky in den 70er Jahren bewiesen. Dafür braucht es aber den Mut für eine von der EU unabhängige Außenpolitik.


URL des Interviews:
http://www.werkstatt.or.at/index.php?option=com_content&task=view&id=482&Itemid=1


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Quelle:
Werkstatt Rundbrief Nr. 15/2011 vom 20. Juli 2011
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veröffentlicht im Schattenblick zum 23. Juli 2011