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FREE GAZA/126: Interview mit Inge Höger - "Wir wurden mit Kabelbindern gefesselt" (jW)


junge Welt - Die Tageszeitung - Ausgabe vom 2. Juni 2010

"Wir wurden mit Kabelbindern gefesselt"

Brutales Vorgehen des israelischen Militärs bei dem Überfall auf
den Hilfskonvoi nach Gaza. Ein Gespräch mit Inge Höger

Interview von Peter Wolter


Inge Höger ist abrüstungspolitische Sprecherin der Bundestagsfraktion der Linkspartei


Sie waren an Bord des türkischen Schiffes "Mavi Marmara" - wie haben Sie den Überfall israelischer Soldaten auf den Konvoi erlebt, der Hilfsgüter nach Gaza bringen wollte?

Wir hatten damit gerechnet, daß Israel es nicht so einfach hinnehmen wird, daß eine Flotille mit Hilfsgütern und rund 700 Menschen an Bord nach Gaza fährt. Einen so brutalen militärischen Überfall hat aber niemand erwartet.


Was haben Sie davon mitbekommen?

Die Schüsse habe ich nicht gehört, ich war unten im Schiff, im "Frauendeck" - das war anfänglich abgeschlossen, wohl vorsorglich zu unserem Schutz. Über den Bordlautsprecher informierte uns der Kapitän, der Frachter sei von den Israelis übernommen worden. Wir sollten zu den übrigen Passagieren in ein anderes Deck gehen - was wir auch taten.

Verschiedene Leute berichteten mir dann, was sich an Deck abgespielt hatte, wie kriegerisch und brutal die israelischen Spezialkräfte vorgegangen sind. Bei Sonnenaufgang wurde unser Schiff plötzlich von Schnellbooten und anderen Kriegsschiffen umringt, von Hubschraubern ließen sich Soldaten auf das Deck herunter. Dann wurden wohl Tränengasbomben gezündet, und es fielen die ersten Schüsse.


Über die Zahl der Toten gibt es unterschiedliche Angaben - von zehn bis 19. Können Sie zur Aufklärung beitragen?

Wie viele es waren, kann ich aus dem, was ich gehört und gesehen habe, nicht beurteilen. Unser Kollege vom IPPNW, der Arzt Matthias Jochheim, hat vier Leichen gesehen - ich selbst allerdings keine. An vielen Ecken an Bord wurden jedenfalls Verletzte versorgt, es gab auf dem Schiff eine eigene Sanitätergruppe.

Ich habe viele Verletzte gesehen, teils blutüberströmt, teils mit rot durchtränkten Verbänden. Auch die Hemden der Ärzte waren mit Blutflecken übersät.


Wie verlief der erste Kontakt mit israelischen Soldaten?

Wir sahen zunächst nur Uniformen, Gesichtsmasken und die auf uns gerichteten Maschinenpistolen. Die Soldaten verhinderten, daß wir uns auf dem Schiff frei bewegen konnten. Kontakt würde ich das also nicht nennen.

Dann wurden alle Passagiere an Deck einzeln von Soldaten durchsucht, wobei sie vorbereitete Zugriffslisten dabei hatten, mit Porträtfotos vieler Passagiere. Die Bilder - das konnte ich erkennen - waren auf Kreta gemacht worden, bei unserer ersten Besprechung über die Vorbereitungen zur Abfahrt des Hilfskonvois. Bei diesem Treffen war also der israelische Geheimdienst schon mit von der Partie.

Uns wurden dann mit Kabelbindern die Hände gefesselt, bei vielen auch auf dem Rücken. Die Männer mußten sich hinknien, wir Frauen durften uns auf Bänke setzen. So haben wir den ganzen Montag vormittag verbracht.

Währenddessen kreisten ständig Hubschrauber über dem Schiff, es wurden Verletzte abgeholt, immer neue Soldaten herangeschafft. Die gingen dann in voller Bewaffnung unter Deck.

Am Nachmittag durften auch wir runtergehen, um uns was zu essen holen zu können. Da sahen wir die Bescherung: Die Soldaten hatten dort wie die Vandalen gehaust, hatten das gesamte Gepäck der Passagiere zerstört und verstreut, es war ein heilloses Durcheinander.


Aber nachdem Ihr Frachter unter militärischer Bewachung im Hafen Ashdod festgemacht hatte, wurden Sie von den israelischen Behörden übernommen. War die Behandlung dort wenigstens korrekt?

Da war nichts korrekt, angefangen damit, daß dieser Übergriff in internationalen Gewässern stattfand, somit gegen das Völkerrecht verstößt. So, wie man uns behandelt hat, kann man das Ganze nur als Kidnapping bezeichnen.


Man hat Sie gestern morgen ins Flugzeug gesetzt, sie sind aber ohne Gepäck in Berlin-Schönefeld angekommen ...

An mein Reisegepäck kam ich gar nicht erst heran. Aus meiner Handtasche durfte ich lediglich noch den Diplomatenpaß herausnehmen - alles andere wurde einbehalten: Hausschlüssel, Handy, Notizen. Den Ausweis habe ich natürlich bewacht wie nichts. Mit Hilfe dieser Ausweise erreichten meine Kollegin Annette Groth und ich schließlich, daß wir Kontakt zur deutschen Botschaft aufnehmen konnten. Das war uns bis zum späten Abend verweigert worden.

Die Botschaft hatte von sich aus den ganzen Tag lang versucht, uns zu kontaktieren - das wurde aber vom israelischen Militär verhindert.


*


Quelle:
junge Welt vom 02.06.2010
mit freundlicher Genehmigung des Autors und der Redaktion
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veröffentlicht im Schattenblick zum 3. Juni 2010