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REZENSION/748: Kris Adlitz - Warum hält sich die Geschlechterungleichheit? (SB)


Kris Adlitz


Warum hält sich die Geschlechterungleichheit?




Abbildung: Alexander Kucharsky, CC BY-SA 4.0 [https://creativecommons.org/licenses/by-sa/4.0], via Wikimedia Commons

Olympe de Gouges, Verfasserin der "Erklärung der Rechte der Frau und Bürgerin" von 1791 (Porträt von Alexander Kucharski)
Abbildung: Alexander Kucharsky, CC BY-SA 4.0 [https://creativecommons.org/licenses/by-sa/4.0], via Wikimedia Commons

Gäbe es Gleichheit, bräuchte mensch sie nicht. Wie könnte sie etwas anderes sein als ein Versprechen, dessen Zweck in seiner Nichterfüllung liegt, wenn sie doch den Vergleich voraussetzt und damit notwendigerweise Unterscheidungskriterien, mit denen die Ungleichheit zwangsläufig geschaffen wird? Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit (oder sollten wir aus Gendergründen so etwas wie eine Geschwisterlichkeit postulieren?) - die Werte der Französischen Revolution, konkretisiert in den 1789 deklarierten Menschen- und Bürgerrechten, die noch heute das Fundament moderner, als Demokratie etikettierter (Rechts-) Staatlichkeit bilden, machen da keine Ausnahme. Dabei galten sie damals für Frauen nur eingeschränkt.

La femme a le droit de monter sur l échafaud; elle doit avoir également celui de monter à la Tribune.
(Die Frau hat das Recht das Schafott zu besteigen. Gleichermaßen muss ihr das Recht zugestanden werden, eine Rednertribüne zu besteigen.)
Olympe de Gouges: Déclaration des droits de la Femme et de la Citoyenne [1]

Die französische Revolutionärin und Schriftstellerin Olympe de Gouges verfasste 1791 eine "Erklärung der Rechte der Frau und Bürgerin" - beißender Spott und ein Affront gegen die neue, nun bürgerliche Republik. Die Vorreiterin späterer Frauen(rechts)bewegungen bezahlte ihr Engagement mit dem Leben. Sie hatte Robespierre öffentlich kritisiert, eine Abstimmung über die neue Staatsform gefordert und wurde, wie viele Menschen, die der Gegnerschaft zum neuen Staat bezichtigt wurden, 1793 auf Anordnung des Revolutionstribunals hingerichtet.

Den Siegeszug der "Gleichheit" vermochte auch dies nicht aufzuhalten. Frauen, die gegen ihre Unterdrückung und Benachteiligung durch das andere Geschlecht, aber auch eine staatliche Herrschaft, die dieses Missverhältnis begründet und fortschreibt, aufbegehrten, stellten und stellen Forderungen nach Gleichheit, Gleichberechtigung, Gleichstellung, Chancengleichheit, Geschlechtergleichheit und was der Gleich-Wörter mehr sind. Sicherlich trägt die Geschlechterfrage zur Absicherung von Herrschaft welcher Art auch immer fundamental bei, weil das Geschlecht ein wesentliches, wenn auch keineswegs das einzige Unterscheidungsmerkmal liefert, um Menschen gegeneinander aufzubringen und auszuspielen. Doch kommt das Beklagen der Geschlechterungleichheit nicht einem Paradoxon gleich? Wie sollte es eine Geschlechtergleichheit geben können, wenn doch das Geschlecht zuvorderst den Zweck erfüllt, Menschen zu unterscheiden?


Abbildung: Mettais, Public domain, via Wikimedia Commons

Olympe de Gouges vor der Guillotine, 1793 (Tuschezeichnung von Lavis de Mettais)
Abbildung: Mettais, Public domain, via Wikimedia Commons

Kris Adlitz hat sein 2020 erschienenes Buch unter den programmatischen Titel "Warum hält sich die Geschlechterungleichheit?" gestellt. Er postuliert für die 1980er und 1990er Jahre einen "Wandel der traditionellen Geschlechterungleichheit", der allerdings ungeachtet vieler Gesetze zur Gleichstellung der Geschlechter zum Stillstand gekommen sei. Die Geschlechtermissverhältnisse, wie er sie nennt, "sinnvoll zu kritisieren", weist er als das wesentliche Ziel seines Buches aus, wobei seine Grundthese lautet, dass diese nicht in erster Linie etwas mit den Geschlechtern zu tun haben, sondern mit den gesamtgesellschaftlichen, das heißt kapitalistischen Verhältnissen.

Der Autor sagt zwar, die Geschlechterungleichheit sei nicht zu akzeptieren und stellt unter anderem fest, dass Vergewaltigung etwas mit "dem als normal angesehenen Verhältnis der Geschlechter" (S. 229) zu tun hat, doch eine Kampfschrift in Sachen Frauenbefreiung ist sein Buch nicht. Zieht frau seine Kernthesen in einen - eigentlich unzulässigen, weil willkürlichen - Vergleich zu der eingangs erwähnten französischen Frauenrechtlerin Olympe de Gouges, wird dies deutlich:

Frauen, wacht auf! Was auch immer die Hürden sein werden, die man euch entgegen stellt, es liegt in eurer Macht, sie zu überwinden. Ihr müsst es nur wollen.
Olympe de Gouges (1748-1793) [2]

Kris Adlitz würde dieser Kritik vermutlich widersprechen, spricht er sich doch - unbestritten - für die Erfüllung des Gleichheitsversprechens auch zwischen den Geschlechtern aus, die jedoch seiner Überzeugung nach die Überwindung der herrschenden kapitalistischen Gesellschaftsordnung voraussetzt. Ein unmittelbarer, wie auch immer gestalteter Kampf engagierter Frauen gegen männliche Vorherrschaft und Dominanz wäre, diesem kausaldeterminierten Denkansatz zufolge, von vornherein zum Scheitern verurteilt, weil er die "Wirkung" angreifen würde, nicht jedoch die "Ursache". Können wir an dieser Stelle ausschließen, dass sich die Argumentation in vermeintlichen Ursachen und Wirkungen hier als hinderlich erweist? Wie könnte es, wenn es um Befreiung geht, die konsequenterweise nur ungeteilt gedacht werden kann, sinnvoll sein, die Anliegen von Frauenbewegungen und feministischen Strömungen in ein Unterordnungsverhältnis gegenüber der Kritik an bzw. dem Widerstand gegen kapitalistische Unterdrückung zu stellen?

Nicht von ungefähr scheint der Autor für seine Kernfrage - "Warum hält sich die Geschlechterungleichheit?" - eine passive Ausdrucksweise gewählt zu haben, die den Eindruck erweckt, als würde die "Geschlechterungleichheit" an sich etwas tun oder lassen, womit die Frage nach den Interessen aller Beteiligten, sich zu Lasten anderer Vorteile zu verschaffen wie auch sich im Kalkül auf einen Beteiligungslohn zu unterwerfen, was selbstverständlich keineswegs nur auf die Verhältnisse zwischen den Geschlechtern zutrifft, sondern als Kernprinzip sozialer Gegenseitigkeit und gesellschaftlicher Herrschaft verstanden werden könnte, in den Hintergrund gerückt wird.

Auf dem Weg dahin, seine eigentliche Botschaft, nämlich dass Geschlechtergleichheit durch die Abschaffung der kapitalistischen Gesellschaftsform erreicht werden könne, beackert der Autor, durchaus kritisch, ein breitgestreutes Themenfeld. So sagt er zum Beispiel, dass die Geschlechterungleichheit von einschlägigen Wissenschaften wie Soziologie und Psychologie zwar beschrieben, jedoch nicht erklärt werden könne. Weil viele Menschen dazu neigten, in dieser Frage auf Rollentheorien zurückzugreifen, setzt sich der Autor ausführlich mit ihnen auseinander und stellt dabei viele Fragen:

Oft ist überhaupt unklar, was mit Rollen gemeint ist: das wirkliche Verhalten, Einstellungen, Kognitives, Körperliches ...? Ist man eigentlich von der Rolle unterdrückt oder gestaltet man sie selbst? Wenn beide Geschlechter ihre Rollen haben, sind dann beide (gleich?) unterdrückt? Oder sind die Frauen einfach dumm, dass sie ihre Rolle so gestalten? Wann und wo spielen die Rollenerwartungen keine Rolle? Rollen kann man aufhören zu spielen, Geschlecht auch? Wie kommen Macht und Herrschaft in die Rollen? Daraus folgen die Fragen: Ist die Geschlechterrollentheorie nicht vielleicht Teil der Verhältnisse, indem sie als selbsterfüllende Prophezeiung fungiert? (S. 32) 

Um zu erklären, warum es so zugeht, wie es zugeht, sei eine "allgemeine Theorie unserer Gesellschaft" nötig, behauptet der Autor in diesem Zusammenhang und weist diese These als "Grundannahme" des Buches aus. Wie jedoch eine allgemeine Gesellschaftstheorie besser oder überhaupt zur Erklärung imstande sein soll, nur weil einige wenige, beispielhaft angeführte Wissenschaftstheorien dies nicht vermögen, bleibt offen. Zu Beginn des Buches deutet Adlitz an, was für eine Theorie ihm da vorschwebt:

Das Buch vertritt eine antiessentialistische Geschlechtertheorie, die die Entwicklung der Geschlechterungleichheit der bürgerlichen Gesellschaft aus deren Grundbegriffen Freiheit und Privateigentum sowie ihrer kapitalistischen Produktionsweise heraus bestimmt. Anders gesagt: Es wird ein marxistischer Feminismus fortgeführt. (S. 8) 

Foto: Friedrich Karl Wunder, Original-Uploader on de.wikipedia was Whoiswohme, Public domain, via Wikimedia Commons

Karl Marx - Ratgeber für den heutigen Kampf um Geschlechtergleichheit? (Aufnahme von 1867)
Foto: Friedrich Karl Wunder, Original-Uploader on de.wikipedia was Whoiswohme, Public domain, via Wikimedia Commons

Wie der Feminismus, verstanden als Begriff für kritische Bewegungen und Strömungen aller Art, die sich für die Selbstbestimmung nicht nur der Frauen, sondern Menschen jeden Geschlechts einsetzen und damit die Ideale der (bürgerlichen) französischen Revolution hochhalten, mit dem Marxismus eine Liaison eingehen kann, erschließt sich den Lesenden hier nicht. Wie sollte, wenn die Frage nach den Eigentumsrechten an den Produktionsmitteln im marxistischen Sinne gelöst, sprich diese von der Klasse der Kapitalisten in die Hand der Arbeiterklasse überführt werden, dies die sogenannte Frauenfrage lösen können, wie sollte sich hier überhaupt ein stichhaltiger Zusammenhang formulieren und begründen lassen?

Für Kris Adlitz ist dies keine offene Frage. Sein Bemühen dreht sich darum zu verdeutlichen, dass die sogenannte Geschlechterungleichheit durch den Kapitalismus (im Zusammenwirken mit Staat und Privatbereich) zu begründen sei. Um dies plausibel zu machen, geht er zunächst an viele gängige Klischees und scheinbar feststehende Tatsachenbehauptungen kritisch heran. So legt er dar, dass die Unterscheidung, Zuordnung und Definition des Geschlechts wissenschaftlich keineswegs so eindeutig geklärt ist, wie vielfach angenommen wird. Auch könne von einer genetisch determinierten Zweigeschlechtlichkeit keine Rede sein, Geschlechtlichkeit müsse als ein "kulturelles hierarchisierendes Symbolsystem" beschrieben werden. (S. 255)

Als Männerherrschaft will der Autor die Geschlechtermissverhältnisse nicht verstanden wissen, ein solcher Herrschaftsbegriff impliziere "verkürzte Analysen der aktuellen Geschlechterungleichheit". Und wieder argumentiert Adlitz kausaldeterminiert: "Dass die Geschlechterbeziehungen von Herrschaft durchsetzt sind und sich eine soziale Ungleichheit ausbildet, das muss aus der sie übergreifenden Gesellschaft und ihrer Herrschaftsordnung resultieren." (S. 96) Wieso das so sein müsse, will der Autor in seinem fünften und letzten Kapitel klären, das den "allgemeinen Formen der kapitalistischen Gesellschaft" (S. 259) gewidmet ist und sich wie eine Kleine Einführung in die marxistische Lehre liest. Den Nachweis seiner These, "dass wir in Deutschland in einer kapitalistischen Gesellschaft leben und dies die Geschlechterungleichheit begründet" (S. 259), bleibt er allerdings schuldig.


Foto: Zentralbibliothek Zürich, Public domain, via Wikimedia Commons

Titelblatt des ersten Bandes von "Das Kapital" in einer Ausgabe von 1867 aus der Sammlung Saitzew in der Zentralbibliothek Zürich
Foto: Zentralbibliothek Zürich, Public domain, via Wikimedia Commons

Er setzt sich so ausführlich mit Marx' Kritik der politischen Ökonomie auseinander als einer keineswegs veralteten Deutung der brutalen Entwicklung der Menschheit, dass die Lesenden Gefahr laufen, die Frage nach der Begründung seiner Kernaussage aus den Augen zu verlieren. Worin könnte sie bestehen? Adlitz spricht, ganz im Marx'schen Sinne, von Menschen als Subjekten, "die Waren tauschen, Geld benützen, abstrakte Arbeit leisten, Kapital akkumulieren, Gesetze formulieren und ihnen folgen müssen". (S. 271) Aus ihrer Fähigkeit zur Vermehrung ergäbe sich, dass sie geschlechtliche Subjekte werden könnten, woraus Wirklichkeit werde, "weil in der kapitalistischen Gesellschaft selbst ohne sexistische Zwecke Geschlechterungleichheit systemisch erzeugt wird". (S. 271) Damit begründet der Autor seine These, die kapitalistische Gesellschaft erzeuge Geschlechterungleichheit, mit sich selbst.

Seine anschließende Frage nach dem Warum führt weg von einer stichhaltigen Begründung dieses von ihm behaupteten Zusammenhangs, weil sie sie als geklärt voraussetzt. Sein Argumentationskonstrukt für die seiner Meinung nach nicht-sexistische Geschlechterungleichheit lautet in etwa wie folgt: Die Benachteiligung von Frauen auf dem Arbeitsmarkt träte immer dann auf, wenn "ihnen unterstellt wird, dass sie schwanger werden könnten", ihre verminderte Leistungsfähigkeit würde die Zwecke kapitalistischer Ökonomie behindern. (S. 274) Die "Formen und Prinzipien" der kapitalistischen Gesellschaft Deutschlands erklärten die fortgesetzte Dominanz der Männer, weil die Anforderungen von Bevölkerungspolitik und Lohnarbeit für Frauen ein Vereinbarkeitsproblem zwischen Familie und Arbeit erzeugten, zugleich erklärten sie aber auch, weshalb

sich die Geschlechterverhältnisse in Deutschland liberaler und weniger ungleich gestalten würden, eben angemessen einer führenden Industrienation mit stetigem Wirtschaftswachstum und einer arbeitswilligen Bevölkerung, die ihre Ideale einer gerechten Gesellschaft pflegt. (S. 278) 

Eine plausible Erklärung für den vom Autor so zwingend behaupteten Zusammenhang zwischen einer kapitalistischen Gesellschaft wie der deutschen und der von ihr angeblich systemisch hervorgebrachten Geschlechterungleichheit lässt sich nicht finden.

Kris Adlitz beendet sein Buch zur Geschlechterungleichheit mit der Anmerkung, es habe seinen Zweck erfüllt, wenn es dazu beiträgt, "feministische und linke Praxis und Theorie zu überdenken". (S. 287) Da er jedoch ohne jeden Zweifel erklärt, die kapitalistische Gesellschaft erzeuge die Geschlechterungleichheit, liegt die Vermutung nahe, dass er die von ihm in dieser Weise aufgeklärten Menschen welchen Geschlechts auch immer für eine (marxistisch orientierte) Theorie und Praxis gegen den Kapitalismus gewinnen möchte. Wiewohl in einer Zeit marginalisierter und staatlich integrierter Protestbewegungen um der völlig ungelösten Frage nach Befreiung willen jeder Funke des Aufbegehrens nur zu begrüßen ist, steht bei diesem Buch zu befürchten, dass die vielen aufgeworfenen Fragen, angesprochenen Zirkelschlüssigkeiten und kritischen Ansätze ihre Grenzen an der marxistischen Lehre gefunden haben, die ihrerseits - wer wollte dies 150 Jahre nach Marx bestreiten? - einer fundamentalen Infragestellung und Überprüfung wert wäre mit Blick auf das Anliegen, den herrschenden Verhältnissen mehr als die Stirn zu bieten.


Anmerkungen:

[1] https://de.wikipedia.org/wiki/Feminismus

[2] https://www.boell.de/de/2018/07/03/von-welle-zu-welle


6. September 2021



Kris Adlitz
Warum hält sich die Geschlechterungleichheit?
BoD - Books on Demand, Norderstedt, 2020
300 Seiten
19,99 Euro
ISBN 978-3-8370-2041-0


veröffentlicht in der Schattenblick-Druckausgabe Nr. 167 vom 11. September 2021


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