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REZENSION/726: Ullrich Mies (Hg.) - Der Tiefe Staat schlägt zu (SB)


Ullrich Mies (Hg.)


Der Tiefe Staat schlägt zu

Wie die westliche Welt Krisen erzeugt und Kriege vorbereitet



Das Konzept des "Tiefen Staates" konstruiert eine zweite und letztlich maßgebliche Sphäre von Staatlichkeit hinter der "Fassadendemokratie", so daß eine konsistente und umfassende Staatskritik zugunsten der Dichotomie zweier unterschiedlich einzuschätzender Entitäten aufgeweicht wird. Ohne den Staat und die in ihm entlang der Gewalt- und Eigentumsfrage verkörperte Herrschaft als solche herauszuarbeiten und zu kritisieren, richtet sich bei dieser Herangehensweise der Fokus auf ein Konglomerat ebenso einflußreicher wie verwerflicher Kräfte, das hintergründig die Fäden zieht und das Geschehen dominiert. Diese Auffassung impliziert in der Konsequenz die Rechtfertigung und Verteidigung der parlamentarischen Demokratie wie überhaupt staatlicher Macht, wo man sie denn im dualen Schema moralischer Zuweisung für gerechtfertigt hält und unhinterfragt voraussetzt.

Auf der Strecke bleibt eine hinreichende Analyse der Klassenkämpfe dieser Epoche unter Bestimmung der Krisen und innovativen Strategien der Inwertsetzung, welche in dieser Gemengelage die treibenden Komplexe und Akteure identifiziert und zugleich der Komplexität der herrschenden Verhältnisse Rechnung trägt, ohne auf ebenso verkürzte wie konsensheischende Feindbilder auszuweichen. Insbesondere aber läßt die vorliegende Darstellung eine Positionierung von unten vermissen, da die Vertikale fundamentaler gesellschaftlicher Widerspruchslagen zugunsten der Horizontalen geostrategischer Erwägungen in der Staatenkonkurrenz preisgegeben wird. Dies mündet in einen Herrschaftsdiskurs, als säße man mit Zbigniew Brzezinski am Tisch und ergötze sich an dessen Schachbrettparabel.

Nun ließe sich natürlich einwenden, daß dieser Sammelband insbesondere die aktuellen Kriege der westlichen Mächte thematisiert und nicht am Anspruch gemessen werden kann, die gesellschaftlichen Entwicklungen in toto abzubilden. Die Fokussierung auf das Konstrukt des Tiefen Staats als vorgebliches Erklärungsmuster installiert jedoch eine Schräglage, welche die Diskussion ins Fahrwasser eines nicht nur unergiebigen, sondern zunehmend kontraproduktiven Kurses rutschen läßt. Wenn Rainer Rupp in seinem Vorwort moniert, daß die Wirtschaft schon lange nicht mehr für den Menschen da sei, da er zu ihrem Verfügungsfaktor geworden sei, drängt sich die Frage auf, wann das je anders gewesen sein soll. Formulierungen wie diese, die in dem Tiefen Staat eine Sonderheit postulieren, denen demokratische Staatlichkeit implizit oder explizit als Positivum gegenübergestellt wird, durchziehen den gesamten Band und führen die Leserschaft letzten Endes durch die Hintertür in die Akzeptanz gewissermaßen geordneter gesellschaftlicher Verfügungsverhältnisse zurück.

Das ist auch deshalb der Fall, weil das auf diese Weise ins Visier genommene Feindbild aller erdenklichen moralischen Verfehlungen bezichtigt wird, als ließe sich mittels Tiraden gegen charakterliche Schwächen die Motivlage und Handlungsweise solcher Akteure hinlänglich erklären, die wahlweise als verkommen, verschlagen, verlogen und wahnwitzig oder aber blindwütig, ignorant und in den Abgrund taumelnd ausgewiesen werden. Das mag im Einzelfall zutreffen oder auch nicht, liefert jedoch keine Handhabe für eine substantielle Analyse der Interessen und Handlungsweisen, insbesondere nicht im Kontext gesellschaftlicher Verhältnisse, die sich strukturell und ideologisch verfestigen oder innovativ vorangetrieben werden.

Nicht überzeugen kann das Verfahren, in der Staatenkonkurrenz das Schema von Gut und Böse lediglich umzudrehen und USA samt Konsorten als die eigentlichen Schurkenstaaten und Terroristen zu bezeichnen. Zweifellos trifft es zu, daß die westlichen Mächte Rußland und China in die Enge treiben, um sich ihrer zu bemächtigen, wie das im vorliegenden Band fundiert und ausgiebig in diversen Aspekten belegt und erläutert wird. Insofern ist Parteinahme gegen die Aggressoren geboten, doch sollte dabei nicht unter den Tisch fallen, daß es sich insgesamt um ein Verhältnis kapitalistischer Staaten mit allerdings unterschiedlich weit entwickelten imperialistischen Ambitionen und deren Umsetzung handelt. So wenig man sich eine unipolare Welt unter dem Diktat Washingtons wünschen mag, fällt doch die hier stellvertretend wiedergegebene Anmerkung Rainer Rupps, unter Putin fälle Moskau wieder souveräne Entscheidungen, die im Interesse des Volkes seien, einseitig verkürzt aus. Kaum ein Wort zur Einschätzung der Gesellschaften Rußlands und Chinas, deren inneren Widersprüchen und repressiven Aspekten, was im Zuge solidarischer Kritik durchaus differenziert und glaubwürdig möglich wäre.

Das grundsätzliche Manko des Ansatzes, westlicherseits angegriffene Staatswesen uneingeschränkt zu verteidigen, führt in der Konsequenz dazu, soziale Aufstände in solchen Ländern als durchweg fremdgesteuert zu diskreditieren und damit als Potential gesellschaftlicher Umwälzungen auszublenden, wenn nicht gar in Abrede zu stellen. Was mit Blick auf die Staaten des Westens als Ausbeutung und Zurichtung beschrieben wird, taucht im Kontext einer verkürzten Imperialismusdebatte andernorts nicht mehr auf, als hätten die Menschen in diesen Ländern ausschließlich die Wahl zwischen Staatstreue und Farbenrevolution.

Wie wenig soziale Bewegungen gewürdigt werden und wie abgekoppelt von höchst relevanten Fragen, die gegenwärtig insbesondere jüngere Menschen beschäftigen, dieser Diskurs geführt wird, belegt ein herablassender Halbsatz im Vorwort - einer der überaus spärlichen Verweise auf die Klimakatastrophe im gesamten Band: Statt sich über die globale Erwärmung zu ereifern, sollten sie sich besser Sorgen um die aktuell weit größere Gefahr der "nuklearen Erwärmung" der Erde machen. Hier muß man wohl von einem Armutszeugnis sprechen, das von der Auffassung zeugen könnte, die ökologische Frage sei eine Erfindung der Konterrevolution. So bricht der Ansatz des Buches, Gegeninformationen bereitzustellen, vermutlich schon an der Einkapselung im Kreise jener, welche die darin präsentierten Überzeugungen ohnehin teilen.

Auf tönernen Füßen steht des weiteren die hier vertretene Fokussierung auf die USA als Maß aller Dinge im imperialistischen Übergriff. So wenig deren gewaltige Übermacht in Abrede zu stellen ist, ruft doch die Einschätzung gravierende Zweifel auf den Plan, daß es sich bei den NATO-Verbündeten um bloße Vasallen handle. Deutschland und andere führenden Mächte der EU haben eine koloniale und imperialistische Vergangenheit im Gepäck und schmieden eigenständige machtpolitische Zukunftspläne, vorerst unter der Fuchtel Washingtons, doch potentiell auch auf eigene Faust. Sie jagen, wie es an einer Stelle des Bandes anschaulich heißt, im Rudel mit, um einen Brocken abzubekommen. Dem wäre jedoch hinzuzufügen, daß sie unablässig danach streben, selber als Leitwolf zu reüssieren. Hannes Hofbauer spricht das in seinem Beitrag zur EU und der deutschen Rolle darin an, indem er deren Kontinuität bei der Vorherrschaft im europäischen Raum thematisiert.

Davon abgesehen bekommt jedoch die Tendenz, die USA und deren Tiefen Staat zum absoluten Feindbild zu überhöhen, insofern eine Schieflage, als sie implizit einer plakativen Verengung und nationalistischen Prägung der Kritik Vorschub leistet. Das bloße Gedankenspiel, was denn gewonnen wäre, zögen die US-Truppen ab und nähmen die NATO gleich mit, ohne daß sich die gesellschaftlichen Verhältnisse in Deutschland grundsätzlich geändert hätten, bleibt schon deshalb auf der Strecke, weil der Nachsatz das Abschiedsszenario ins Reich der Illusion verbannt.

Wie ein kurzer Streifzug durch die Geschichte des Konzepts vom Tiefen Staat zeigt, handelt es sich letztlich um ein diffuses Konstrukt, das in unterschiedlichen Zusammenhängen recht verschieden Gestalt annahm und insbesondere in jüngerer Zeit von rivalisierenden Fraktionen des Staatsapparats zur wechselseitigen Bezichtigung verwendet wird. Von einem Staat im Staate war insbesondere in der Türkei die Rede, wo der Kemalismus einen starken Nationalismus und eine strikte Trennung von Religion und Staat verankert hatte. Als Hüter dieses Modells sahen sich vor allem das Militär und die Geheimdienste, die es mit großer Härte bis hin zum Militärputsch 1971 und 1980 gegen alle davon abweichenden Bestrebungen verteidigten. Eine konspirative Verflechtung von Militär, Geheimdiensten, Politik, Justiz, Verwaltung, Rechtsextremismus und organisiertem Verbrechen ging gegen Linke und insbesondere die kurdische Befreiungsbewegung vor, die mit einem sogenannten Schmutzigen Krieg überzogen wurde. Hinzu kamen in zunehmendem Maße Machtkämpfe mit den erstarkenden islamistischen Bestrebungen wie auch zwischen deren Fraktionen. Die Abfolge tatsächlicher oder fiktiver Putschversuche und Unterwanderung mündete schließlich in das Erdogan-Regime, das jegliche Opposition und sämtliche Institutionen mit Wellen der Säuberung und Repression überzieht. Der Aufstieg des despotischen Machthabers bis hin zum Präsidialsystem dokumentiert die Windungen und Wendungen des Kampfbegriffs "Tiefer Staat", der letzten Endes vom autokratischen Staatsführer okkupiert wurde, um seine Gegner mit Unterdrückung heimzusuchen, indem er sie wahlweise der Gülen-Bewegung oder der PKK zuordnet.

In Deutschland wiederum bezog sich der Publizist Jürgen Roth mit seinem 2016 erschienenen Buch "Der Tiefe Staat. Die Unterwanderung der Demokratie durch Geheimdienste, politische Komplizen und den rechten Mob" auf den Aufbau von Stay behind-Gruppen in den Nachkriegsjahrzehnten der BRD, den Verbindungen des Verfassungsschutzes zum rechtsextremen NSU sowie der Kampagne gegen Flüchtlinge im Sommer und Herbst 2015. Jeweils spezifische hintergründige Machtkomplexe werden auch für diverse weitere Staaten wie etwa Italien, Spanien, Israel, Ägypten, Ukraine oder Kolumbien konstatiert.

Auch in entsprechenden Debatten und Kontroversen in den USA zeichnet sich ein Bedeutungswandel des Konzepts vom Tiefen Staat ab. Im Kontext des "militärisch-industriellen Komplexes" war es mit linker oder libertärer Kritik an reaktionären Machenschaften ohne jegliche demokratische Kontrolle assoziiert. Unter dem Eindruck der Enthüllungen Edward Snowdens sprach Mike Lofgren davon, daß sich an der Verfassung und demokratisch gewählten Regierungen vorbei ein machtvolles Interessenkonglomerat eigener Art etabliert habe, das aus Lobbyisten, der Wall Street, Silicon Valley, den Geheimdiensten, Teilen des Militärs, der Medien und der Justiz bestehe. Heute sind es jedoch vorzugsweise Donald Trump, seine Anhängerschaft und die reaktionäre Rechte, die das "Establishment", das "System" oder nahezu synonym den "Tiefen Staat" als Gegner dieser Präsidentschaft und "des amerikanischen Volkes" geißeln. Kritiker Trumps diskreditieren das als "Verschwörungstheorie", die von den unablässigen Fehltritten der Regierungsführung ablenken solle.

Das Konzept des Tiefen Staates hat also einen Bedeutungswandel bis hin zur Okkupation durch die Rechte durchlaufen, was für sich genommen schon die Frage aufwirft, ob es überhaupt noch trennscharf und erkenntnisfördernd verwendet werden kann. Darüber hinaus stellt sich grundsätzlich diffus dar, wer oder was den Tiefen Staat konstituiert, der zum Teil für die Öffentlichkeit sichtbar sein, im wesentlichen jedoch verborgen im Hintergrund den Lauf der Dinge maßgeblich bestimmen soll. Die unsichtbare Fraktion setzt sich nach Ullrich Mies aus dem Finanzkapital, Rüstungskonzern- und Lobbymacht, Teilen des Außen-, Kriegs- und Finanzministeriums, Geheimdiensten, neokonservativen Think Tanks, Stiftungen und NGOs, PR-Wirtschaft und Mainstreammedien, gekauften Wissenschaftlern, NATO- und EU-Gremien sowie der Sicherheits- und Überwachungsindustrie zusammen. Mithilfe ihrer transatlantischen Netzwerke hätten die NeoCons ihre Statthalter in Führungspositionen der NATO, der EU-Bürokratie, der europäischen Staaten wie auch in Parlamenten und Medien plaziert.

In diesen großen Sack wandert alles und jedes, was repressiver Staatlichkeit zugeordnet werden kann, so daß der Erklärungswert dramatisch reduziert wird. Das ist bedauerlich, zumal der Sammelband Beiträge vereint, die durchaus informativ und faktenreich verschiedene Aspekte des Problemkomplexes beleuchten. Problematisch bleibt jedoch die dabei allenthalben transportierte Vorstellung, hier werde die ansonsten verheimlichte Wahrheit ans Licht gebracht, woraus eine darüber aufgeklärte Leserschaft Konsequenzen ziehen könne. Dies unterstellt eine weitreichende Unkenntnis der Propaganda im Kontext geführter Kriege, obgleich diese heute auch von den Mainstreammedien ungeniert, weil folgenlos breitgetreten wird, vom Internet ganz zu schweigen. Wen interessiert ernsthaft, mit welchen Mitteln der hiesige Lebensstandard sichergestellt wird? Wenngleich sich die Kriegsbegeisterung in engen Grenzen hält, sind doch die meisten überzeugt und dafür, daß zum vollen Teller eben auch eine Bundeswehr gehört, die in aller Welt einen sicheren Nachschub gewährleistet und die Freßfeinde auf Abstand hält.

Es geht nicht nur um wahnwitzige Neocons, brutale Kriegsfalken und raffgierige Blindflieger, wie einem die Lektüre des Buches phasenweise nahelegen mag. Es steht in einem viel tiefgreifenderen Sinn die Machtfrage im Raum, wobei die Beteiligung der Menschen an kapitalistischer und neokolonialer Herrschaft, an der Ausbeutung und Ausplünderung von Mensch und Natur nicht ausgespart werden darf. In dieser Zeit werden zahlreiche Kämpfe gegen die Klimakatastrophe, gegen Patriarchat und Rassismus, für soziale Forderungen und manches mehr geführt. Wer denn meint, er habe dazu etwas beizutragen, kann nicht umhin, sich damit auseinanderzusetzen und sich dorthin zu begeben, wo Kämpfe geführt werden und Entwicklungsschritte nicht auszuschließen sind. Die Publikation zum Tiefen Staat bleibt zwangsläufig ein Nischenprodukt, soweit sie den Anschluß an existierende Bewegungen von unten und reale Kämpfe nicht einmal in Erwägung zieht.

19. November 2020


Ullrich Mies (Hg.)
Der Tiefe Staat schlägt zu
Wie die westliche Welt Krisen erzeugt und Kriege vorbereitet
Promedia Verlag Wien, 2019
280 Seiten
19,90 EUR
ISBN 978-3-85371-449-2


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