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BUCHBESPRECHUNG/202: Julia Friedrichs - Working Class. Warum wir Arbeit brauchen, von der wir leben können (Klaus Ludwig Helf)


Julia Friedrichs

Working Class. Warum wir Arbeit brauchen, von der wir leben können

von Klaus Ludwig Helf, Mai 2021


Jahrzehntelang konnte man im Nachkriegs-(West)-Deutschland verlässlich davon ausgehen, dass es trotz unterschiedlicher Einkommen und Vermögen allen besser gehen werde. Doch dieses Aufstiegsversprechen der sozialen Marktwirtschaft bröckele seit Ende der 80er Jahre. Die Generation nach den Babyboomern (ab 1964) sei die erste, die ihre Eltern mehrheitlich wirtschaftlich nicht mehr übertreffen werde - so die These der Autorin des vorliegenden Bandes. Von den nach 1980 Geborenen verdiene nur noch die Hälfte mehr als ihre Eltern. Auch die Vorstellung, von der eigenen Arbeit leben zu können, sei trotz Wirtschaftswachstum ein bescheidener, aber fast unerfüllbarer Wunsch vor allem für die neue deutsche Working Class, die Hälfte der abhängig Beschäftigten. Die Mehrheit in diesem Land verfüge kaum über Kapital oder Vermögen. Seit Jahrzehnten hätten Ökonomen eindringlich gewarnt, dass eine Krise vor allem abhängig Beschäftigte hart treffen werde, die über kein oder wenig Vermögen verfügten, das wie ein Airbag bei Unfällen des Lebens wie Jobverlust, Scheidung, psychische und physische Erkrankungen wirken könne. Die Hälfte der Deutschen sei daher kaum geschützt unterwegs: "Nun war es ein Virus, das den ökonomischen Totalschaden auslöste. Schon in der ersten Woche der Pandemie wurde sichtbar, wer ungeschützt gegen die Wand rauscht" (S. 17).

Julia Friedrichs geht der Frage nach, wie es dazu kommen konnte und was man politisch, wirtschaftlich und sozial dagegen tun könne. Der Band ist eine gut lesbare, alarmierende Sozialreportage. Beobachtungen, Fakten, Interviews und Analysen sind eng miteinander verwoben und spannend kombiniert. Hinzu kommen Statistiken, Studien und Meinungen von Wissenschaftlern (Ökonomen, Psychologen und Soziologen), Gewerkschaftern, Unternehmern und Politikern. Ein Jahr lang begleitete Julia Friedrichs drei Menschen, die zu der ungehörten Hälfte des Landes gehören - den Arbeiterinnen, Angestellten und Freiberuflerinnen ohne Vermögen: Sait (Reinigungskraft bei den Berliner Verkehrsbetrieben), Alexandra (freischaffende Musiklehrerein auf dem Land) und Christian (langjähriger Mitarbeiter bei KARSTADT am Berliner Hermanplatz). Sie dachten, dass Arbeit sie durchs Leben tragen werde, aber sie müssen hart kämpfen, um zu überleben.

Julia Friedrichs arbeitet seit ihrem Studium der Journalistik in Dortmund und Brüssel als Autorin und Journalistin, produziert u.a. Fernsehreportagen und Magazinbeiträge für die WDR-Redaktionen "Monitor", "Echtzeit" und "Aktuelle Dokumentation". Für die Sozialreportage "Ungleichland" erhielt sie mehrere Auszeichnungen (Axel-Springer-Preis für junge Journalisten, Ludwig-Erhard-Förderpreis); sie ist Autorin mehrerer Sach-Bücher.

Nach einem längeren Prolog folgen fünf weitere Kapitel, ein Epilog, Dank und eine Literaturliste. Julia Friedrichs erklärt das Ziel ihrer Arbeit wie folgt: "Dieses Buch erzählt den Umbruch anhand von Menschen, die dachten, dass Arbeit sie durchs Leben trägt. Ihre Stimme hört man viel zu selten. Denn die meisten, die dieses Land regieren und lenken, die an seiner Chronik schreiben, die es deuten, die in den Talkshows diskutieren oder den Debatten im Netz im Millisekundentakt neue Twists geben, gehören nicht zur working class. Die Arbeiter, Angestellten und Freiberufler gehören zur ungehörten Hälfte. Dieses Buch ist ihre Geschichte" (S. 17).

Den Arbeiter im klassischen Sinne - so die korrekte Annahme der Autorin - gebe es im deutschen Sprachraum nicht mehr wie z.B. den Kohle-Kumpel oder den Malocher am Band, vielmehr sei es ein neues Dienstleistungsproletariat, das z.B. Pakete schleppt, Regale auffüllt, Essen transportiert, pflegt, kocht, putzt, backt, unterrichtet oder Excel-Tabellen ausfüllt oder Programme schreibt, also Menschen, die arbeiten, um Geld zum Leben zu haben. Sie verfügen weder über Aktien, Windräder, Mietshäuser, Fonds für Altersvorsorge, erwarten keine Erbschaften, sind also angewiesen auf den Ertrag ihrer Hände und ihrer Köpfe Arbeit. Für sie gelte: "Nettoeinkommen gleich Monatsbudget ohne Rücklagen-Netz und doppelten Familien-Vermögen-Boden" (S. 12). Folge man diesem System, so seien in Deutschland die meisten Menschen Arbeiter. Obwohl die Wirtschaft ein Jahrzehnt lang gewachsen, Gewinne geflossen und die Aktienindizes geklettert seien, verfüge die Mehrheit in diesem Land über kaum Kapital oder Vermögen. Viele Menschen in Deutschland könnten trotz eines Vollzeitjobs kaum von ihrer Arbeit leben und hätten nichts Erspartes, um gegen Eventualitäten des Lebens gewappnet zu sein.

Nach dem Soziologen Andreas Reckwitz erlebe diese neue Unterklasse der Spätmoderne im historischen Vergleich zur Arbeiterschaft in der Industriegesellschaft eine soziale Deklassierung und eine kulturelle Entwertung zugleich - viel Arbeit, wenig Geld, keine Sicherheit, kaum respektiert, "ein doppelter Arschtritt" wie im Buch ein IG-Bau Gewerkschaftssekretär zitiert wird. In Deutschland habe sich eine neue "Working Class" herausgebildet, die am Wohlstandszuwachs kaum teilhabe, in disparaten und problematischen Arbeitsverhältnissen (meist aussertariflich) eingebunden seien, sich selbst nicht als gemeinsame Klasse begriffen und sich daher auch nicht solidarisieren könnten. Die Gewerkschaften hätten es ab den 80ern versäumt, sich an die veränderte Arbeitswelt anzupassen und sich um die prekär Beschäftigten und das neue Dienstleistungsproletariat zu kümmern.

Wie ist es dazu gekommen? Im Zuge der Neoliberalisierung habe die moderne kapitalistische Gesellschaft einen massiven Wechsel von Arbeit zum Investment vollzogen: "Es ist eine der großen Verschiebungen im Kapitalismus der letzten 30 Jahre, viel mehr als ein Riss, die Drift der gesamten Tektonik. Arbeit hat verloren und Kapital gewonnen" (S. 86/87). Die Finanzmärkte hätten in den 80er Jahren das Ruder übernommen als Antriebsräder der Ökonomie. Waren in den Siebzigern Finanzwirtschaft und Realwirtschaft gleichauf, so sei inzwischen die Finanzwirtschaft auf das Vierfache angeschwollen, sodass immer mehr Menschen Einkommen aus Kapital bezögen. Gleichzeitig sei sie Struktur des Steuersystems zu deren Gunsten verändert worden. So sei in Deutschland der Durchschnittssatz der Körperschaftsteuer zuzüglich der Gewerbesteuer von 36 auf 15% gesunken, der Spitzensteuersatz von 56% (Beginn der Ära Kohl) auf 42 % (Ära Schröder), die jährliche Vermögensabgabe für hohe Vermögen 1997 ausgesetzt, so dass aktuell die Hälfte des persönlichen Reichtums nicht mehr selbst erarbeitet, sondern vererbt oder verschenkt werde. Der deutsche Staat finanziere sich daher vor allem durch Steuern auf Konsum und Arbeit (Einkommensteuer, Mehrwertsteuer, Sozialabgaben).

Die Autorin stellt Staatssekretär Wolfgang Schmidt, dem engsten und langjährigen Berater von SPD-Kanzlerkandidat und Finanzminister Olaf Scholz brisante Fragen: "Wie kann es sein, dass es in einem Land, in dem die SPD an der Seite der working-class steht, das Bildungssystem noch immer Arbeiterkinder so schlecht fördert? Wieso wird Arbeit stärker besteuert als Kapital? Warum werden die großen Erbschaften steuerlich verschont? Wo sind die Programme, die der ärmeren Hälfte dazu verhelfen, zumindest ein bisschen Reserven für schlechte Zeiten aufzubauen? Wo war die Bundesrepublik, als die Mieten stiegen?" (S. 270). Er habe keine klaren, einschneidenden Vorschläge parat, er wirke zwar verständnisvoll, aber bei den Lösungen zögerlich pragmatisch und eher ausweichend. Bereits bei früheren Interviews habe der Staatssekretär sie "kirre" gemacht, "weil er die ökonomische Unwucht zugunsten der Vermögen und zuungunsten der working class zuvor detailliert beschrieben hatte, aber bei der Frage nach den Gegenmaßnahmen das ganz kleine Karo wählte. Politik, sagte er schon da, hieße, Probleme Stück für Stück verbessern, Meter für Meter, meist Zentimeter für Zentimeter. Aber reicht das? ... Müsste man nicht viel mehr darüber reden, wo man am Ende hinwill?" (S. 273).

Der Umbruch der letzten Jahrzehnte verlange eigentlich entschiedeneres Dagegenhalten, meint Julia Friedrichs, die Kluft in den Vermögen, die Ungleichheit im Bildungssystem, die Unwucht zugunsten wohlhabender Älterer könne kaum mit dem "Verstellen von ein paar Schräubchen" beseitigt werden. Ebenso indifferent und mutlos hätten die beiden Ex-Juso-Chefs Björn Böhning (Staatssekretär im Arbeits- und Sozialministerium) und Kevin Kühnert (stellvertretender Vorsitzender der SPD) auf ihre Fragen geantwortet. Böhning habe sogar Verständnis für die Geschäftspolitik des KARSTADT-Investors geäußert, als die Frage gestellt wurde: "Wie kann es sein, dass der Wirt des 'Zapfhahns' unten im Karstadt seine Reserven aufbraucht, während der Inhaber mit Milliarden-Puffer oben erwartet, dass der Staat den einen oder anderen steuerfinanzierten Schutzschirm über Karstadt aufspannt?" (S. 297).

Julia Friedrichs fordert am Ende ihres Buches einschneidende politische und wirtschaftliche Maßnahmen. So müsse vor allem die Steuer- und Vermögenspolitik grundsätzlich verändert und Vermögensaufbau für die breite Bevölkerung unterstützt werden durch Modelle wie Staatsfonds (Norwegen), Mietkauf und soziale Erbschaft. Den Gürtel enger schnallen sollten jetzt andere. Die in den letzten Jahren fette Poster angesetzt hätten und im Ballon weit nach oben schwebten, müssten jetzt die Gewichte stemmen, nicht von anderen verlangen, sich zu bescheiden, sondern selbst beginnen, als "Verzichtsavantgarde": "Die im Heißluftballon könnten vielleicht den Anfang machen - ein bisschen was abgeben, ein bisschen runterkommen; nicht auf Bodenhöhe, aber auf Sichtweite. Sie könnten Mieten senken, Sonderabgaben akzeptieren, mit niedrigerer Rendite leben" (S. 304). Dem ist nichts hinzuzufügen. Julia Friedrichs hat eine beeindruckende, aufrüttelnde Sozialreportage geschrieben.


Julia Friedrichs: Working Class. Warum wir Arbeit brauchen, von der wir leben können. Berlin Verlag in der Piper-Verlag GmbH, Berlin/München 2021, 320 Seiten, Hardcover, 22 Euro.

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Quelle:
© 2021 by Klaus Ludwig Helf
Mit freundlicher Genehmigung des Autors


veröffentlicht im Schattenblick zum 18. Mai 2021

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