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BUCHBESPRECHUNG/195: Nils Heisterhagen - Verantwortung. Für einen neuen politischen Gemeinsinn ... (Sachbuch) (Klaus Ludwig Helf)


Nils Heisterhagen

Verantwortung
Für einen neuen politischen Gemeinsinn in Zeiten des Wandels

Von Klaus Ludwig Helf, September 2020


Die SPD als älteste der noch bestehenden Parteien Deutschlands befindet sich im Sinkflug. In den vergangenen 22 Jahren hat sie 18 Jahre (mit-)regiert. Je häufiger sie das Spitzenpersonal wechselte, desto schlechter wurden ihre Wahlergebnisse. Hatte sie 1998 bei der Bundestagswahl mit Schröder/Lafontaine noch 20 Millionen Stimmen, so waren es 2017 mit Martin Schulz nur noch 9.5 Millionen mit 20.5 % das bislang schlechteste Ergebnis bei einer Bundestagswahl. Auch die Zahl ihrer Mitglieder hat sich zwischen 1976 und 2020 mehr als halbiert. Diese Entwicklung hat sicher viele, auch unterschiedlich dimensionierte Ursachen. Einer der wenigen jungen und prominenten Intellektuellen der Partei, Nils Heisterhagen (Jahrgang 1988), publiziert seit Jahren Vorschläge für die Erneuerung und Revitalisierung der Linken, insbesondere der SPD. In seinem neuesten Band fordert er eine Richtungsentscheidung der SPD, eine materialistische Wende und einen neuen Realismus, Mut zu haben, "... im konkreten Regieren die Verantwortung für die Umsetzung einer links-ökonomischen Wende zu übernehmen. Liebe zur Welt bedeutet zu handeln. Sie bedeutet aus Verantwortung in die Praxis zu gehen. ... Ich nenne diese politische Philosophie, 'politischen Sokratismus'. Diese Philosophie leitet das Buch. Es wird davon handeln, die Dimensionen der Verantwortung aus Liebe zur Welt auszubuchstabieren." (S. 36/37).

Nils Heisterhagen ist Politologe, Philosoph und Publizist, promovierte mit einer Arbeit über 'Existenziellen Republikanismus', war Grundsatzreferent und Redenschreiber beim Vorstand der IG Metall, dann Grundsatzreferent der Landtagsfraktion der SPD in Rheinland-Pfalz bis 2018, seitdem freier Publizist und Journalist , veröffentlichte zahlreiche Artikel vor allem zum Kurs der SPD; letzte Publikationen: 'Existenzieller Republikanismus. Ein Plädoyer für Freiheit' (2017), 'Die Liberale Illusion. Warum wir einen linken Realismus brauchen.' (2018).

Nach einer längeren Einleitung über "Verantwortung aus Liebe zur Welt" folgen drei Haupt-Kapitel und der Schluss mit einem Titel, der auch ein handlungsleitendes Motto des Autors ist: "Frage nicht, was dein Land für dich tun kann, sondern was du für dein Land tun kannst"; anschießend folgen ein Nachwort ("Für eine Verantwortungslinke") und der Anmerkungsapparat. Leider fehlt eine systematische Literaturliste, so dass es für den interessierten Leser schwierig ist, die benutzen Quellen weiter zu verfolgen und nachzuschlagen - wäre auch möglich über eine Online-Verknüpfung. In seiner politisch-philosophisch fundierten Analyse der Theorie und Praxis der SPD-Linken bezieht sich Nils Heisterhagen vor allem auf Sokrates, Hegel, Kant, Heidegger, Weber, Arend und Rorty; mit Karl Marx verbindet ihn lediglich die Macht- und Veränderungsperspektive, nicht aber dessen Kritik der politischen Ökonomie. Die Forderungen nach Vergesellschaftung der Produktionsmittel - wie sie auch der JUSO-Vorsitzende Kevin Kühnert andeutete - dürften niemals eine Position der SPD sein; die programmatischen Ansätze der Jusos bezeichnet er als "weltfremde Folklore": "Man kann links sein, sogar sehr links, ohne Sozialist zu sein. Linke Ökonomen bekommen das schließlich auch hin." (S. 35). Bereits vor über 20 Jahren habe der US-amerikanische Philosoph Richard Rorty die neue 'kulturelle Linke' kritisiert die, statt auf einen politischen Wandel hinzuwirken, nur noch den kulturellen Wandel bewirken wollte. Die 'konkrete Utopie' eines Ernst Bloch sei ihnen abhandengekommen; die 'kulturelle Linke' habe sich auf Fragen der Differenz und der Identität spezialisiert und mehr mit dem Stigma als mit Geld und der sozialen Eindämmung des Kapitalismus beschäftigt; sie habe sich von Marx abgewandt und Freud zugewandt - mit fatalen Folgen: "Dadurch, dass die Linken ihren Widerstand gegen soziale Ungleichheit und Unsicherheit schleifen ließen, ermöglichten sie einer kosmopolitischen Oberschicht den Aufstieg." (S. 15).

Ähnliche Tendenzen sieht Heisterhagen auch in Deutschland. Linke wie auch rechte Identitätspolitik sei eines der zentralen Probleme der aktuellen politischen Diskursführung. Analog zu Max Weber (Gesinnungs- und Verantwortungsethik) konstruiert Heisterhagen das idealtypisch zugespitzte Gegensatzpaar von 'Diskurs-/Haltungs-/Kultur-Linken' und 'Verantwortungs-/Handlungs-Linken', mit dem er versucht, das Dilemma linker Politik in Deutschland - sicher etwas holzschnittartig und polemisch - zu analysieren. Das liberale Bürgertum verorte sich links, bilde aber tatsächlich eine Allianz mit dem neoliberalen Großkapital, indem es das Linkssein aktuell über Haltungen, Werte, Moralisierung und einseitige, nicht gesamtgesellschaftliche Fokussierung auf Themen wie Umwelt- und Klimaschutz, Ernährung und Lifestyle, Minderheiten- und Geschlechtergerechtigkeit und Multikulti definiere, aber die soziale Frage nicht mehr stelle. Die liberalen und moderaten Linken hätten als "Opportunisten eines postmodernen Zeitgeistes" aufgehört, eine Gegenmacht zum Kapital und eine Schutzmacht für die 'kleinen Leute' zu sein: "Der linke öffentliche Fokus liegt heute zu sehr auf Kommunikation und Marketing anstatt auf der Arbeit an Themen. Und es liegt ein zu großer Fokus der politischen Linke, insbesondere bei der SPD, auf Fragen der eigenen postulierten Werte anstatt auf materiellen Interessen ihrer Repräsentierten und der breiten Masse. Das Materielle - nicht nur als Sozial- und Steuerpolitik, sondern auch als Umwelt-, Wirtschaft- und Migrationspolitik - muss sie zurück in das Zentrum rücken." (S. 195). Die neoliberale 'Friss oder stirb'-Mentalität habe in den letzten Jahrzehnten ökonomisch und sozial viel Unheil angerichtet und die Gesellschaft tief gespalten. Statt auf das 'Bio-Bürgertum' zu schielen, sollten - so Heisterhagen - die Verantwortungs- und Handlungslinken (dazu zählt er reformwillige Teile von SPD, GRÜNE und LINKE) einen radikalen Bruch mit dem postmodernen Linksliberalismus vollziehen und aus dem identitätspolitischen Kulturkampf ausbrechen. Die Linke müsse wieder ökonomische Themen in den Mittelpunkt stellen und gesamtgesellschaftlich-solidarisch denken und handeln und sich verstärkt um die Interessen weiter Teile der unteren und mittleren Mittelschicht und der kleinen Leute wie auch des Dienstleistungsprekariats kümmern, die sich sonst weiter von Demokratie und Gesellschaft abwenden oder rechts wählen. Heisterhagen will weg von Weltbild- und Wertediskussionen, die er als Symbolpolitik wertet, weg von der radikal individualistischen zu einer verantwortungsvollen, gesamtgesellschaftlich-solidarischen Perspektive des Wir. Er plädiert dagegen für einen linken Realismus, der nichts beschönige und nichts ignoriere, sondern Probleme benenne, Lösungen anbiete und auch umsetze. In Zeiten massiver sozialer Ungerechtigkeit müsse das linke Profil geschärft, die "soziale Frage" und die Systemkritik wieder in den Fokus gestellt, der Staat und die öffentlichen Einrichtungen gestärkt werden. Eine postmoderne 'Diskurs-Linke' mit ihrem moralisierenden, hilflosen Antipopulismus habe keine Chance auf das Kanzleramt, aber eine verantwortungsvolle, realistische 'Handlungs-Linke', die die Macht suche als eine kombinierte Diskurs- und Handlungsmacht, die durchsetzen, gestalten und handeln will im Sinne von Karl Marx: "Die Philosophen haben die Welt nur verschieden interpretiert, es kommt darauf an sie zu verändern." Nils Heisterhagen hat einen anregenden politisch-philosophischen Essay geschrieben, in dem er verschiedene Denktraditionen zu einer politischen Philosophie der Verantwortung und des Gemeinsinns zusammenführt. Gleichzeitig hat er eine politische Streitschrift geschrieben für eine profilierte und zukunftsfähige Linke mit vielen diskussionswerten und sicher auch streitbaren Thesen und Anregungen.

Nils Heisterhagen
Verantwortung
Für einen neuen politischen Gemeinsinn in Zeiten des Wandels
Verlag J.H.W. Dietz, Bonn 2020
176 Seiten, 18,00 EUR.

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Quelle:
© 2020 by Klaus Ludwig Helf
Mit freundlicher Genehmigung des Autors


veröffentlicht im Schattenblick zum 13. November 2020

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